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In Städten wie dem belagerten Mariupol kämpfen russischsprachige Ukrainer gegen russische Soldaten.

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Der Historiker Serhii Plokhy glaubt, "dass die Affinität, die viele Menschen in der Ukraine gegenüber den Russen verspürt haben, für Generationen zerstört ist".

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Krieg gegen das Nachbarland – im Namen einer angeblichen nationalen Einheit: Es klingt widersprüchlich und ist doch bittere Realität für die Ukraine, die von Russland angegriffen wird. Die Beziehungen zwischen den Menschen beider Länder könnten für lange Zeit geschädigt sein.

STANDARD: Wladimir Putin hat in einem Aufsatz vergangenen Sommer Russen und Ukrainer als "ein Volk" bezeichnet, als "geeintes Ganzes". Wie sehen Sie das als Historiker?

Plokhy: Mir kam das sehr bekannt vor. Es ist das Modell einer russischen Nation, das neben Großrussen auch Kleinrussen (Ukrainer) und Weißrussen (Belarussen) miteinbezieht. Das war die offizielle Linie im Russischen Reich, bis zur Revolution des Jahres 1917. Putins Denken ist zum Teil von Politikern und Intellektuellen geprägt, die damals die Existenz unterschiedlicher Nationen bestritten und die Bolschewisten beschuldigten, diese erst geschaffen zu haben. In Wirklichkeit sahen die Bolschewisten keine andere Möglichkeit, als diesbezüglich Konzessionen zu machen, wenn sie die Ukraine kontrollieren wollten.

STANDARD: Wie relevant sind Putins historische Herleitungen heute?

Plokhy: Ich war überrascht, sie zu lesen. Wir leben im 21. Jahrhundert. Diese Ideen sind nicht sehr originell, aber sehr veraltet. Und sie funktionieren nicht einmal mehr auf der Ebene von Ethnizität und Sprache, weil sich die ukrainische Sprache und Kultur seit Mitte des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt haben.

STANDARD: Zudem tritt in der Ukraine das ethnische Moment zurück hinter andere geteilte Werte.

Plokhy: Ja, auch deshalb sind diese Ideen ohne jeden Bezug zur Realität. Das Modell der heutigen ukrainischen Nation beruht auf Loyalität dem Land und seinen Institutionen gegenüber. Und diese Idee überquert ethnische und sprachliche Grenzen.

STANDARD: Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stammt aus einer russischsprachigen Familie. Und er ist Jude. Wie sehen Sie da den "Nazi"-Vorwurf Russlands gegen die Ukraine?

Plokhy: Der Vorwurf ist absurd. Selenskyj ist zudem nicht der erste ukrainische Spitzenpolitiker mit jüdischem Background, es gab schon zwei jüdische Premierminister. Das ist ziemlich einzigartig in Europa. Ich glaube aber, dass Russland gar nicht vorhat, dieses falsche Nazi-Narrativ irgendwo anders zu verkaufen als in Russland selbst. Dort allerdings ist die Propaganda so stark, dass ein Teil der Menschen so gut wie alles schluckt, egal wie absurd es für die Außenwelt aussieht.

STANDARD: Wie passt dieses Feind-Narrativ zur angeblichen Einheit beider Völker? Und was sind die Folgen?

Plokhy: Ich glaube, dass die Affinität, die viele Menschen in der Ukraine gegenüber den Russen verspürt haben, für Generationen zerstört ist. Das wird besonders in den östlichen Teilen der Ukraine sichtbar, wo die urbanen Ballungsräume überwiegend russischsprachig sind. In Städten wie Mariupol oder Charkiw werden im Namen von Brüderlichkeit und Einheit, im Namen der Idee, dass Russland sie befreien will, russischsprachige Menschen getötet. Russland "befreit" sie aber nur von ihrem Leben, ihren Besitztümern und ihrer Zukunft. Das tötet auch die Idee, dass Russen und Ukrainer ein und dasselbe sind.

STANDARD: War die Ukraine nicht stets von einem recht starken Regionalismus geprägt?

Plokhy: Dieser Regionalismus, der mit der unterschiedlichen Geschichte verschiedener Landesteile zu tun hat, war 2014/2015 ein wichtiger Faktor. Putin konnte ihn damals für sich nutzen. Deshalb verlief die Annexion der Krim aus russischer Sicht so glatt, deshalb entzündete sich der Krieg im Donbass. Im Rest des Landes hat der Regionalismus seither aber stark an Bedeutung verloren, die Einheit des Landes wurde inzwischen zur wichtigsten Idee. Es gibt aktuell keine Region, in der die Russen irgendeine Unterstützung für sich aufbauen konnten.

STANDARD: Wie wirkt sich das in den mittlerweile russisch kontrollierten Gebieten aus?

Plokhy: Die Russen haben Schwierigkeiten, auf lokaler Ebene Politiker zu finden, die mit ihnen kooperieren. Bürgermeister vor Ort haben die volle Unterstützung der Bevölkerung und verweigern die Zusammenarbeit mit den Besatzern. Gleichzeitig versuchen sie, irgendwie ihre lokalen Verwaltungen am Laufen zu halten und das Leben der Menschen erträglich zu machen.

STANDARD: Was bedeutet der ukrainische Widerstand für Europa?

Plokhy: Die Ukrainer kämpfen für ihr Land. Aber sie kämpfen auch für Werte, die sie mit Europa assoziieren – und mit denen Europa sich selbst assoziiert: territoriale Integrität, Demokratie, persönliche Freiheit. Für sie sind das mehr als nur Worte. Sie wissen, dass sie diese Dinge verlieren könnten. Nun dämmert es auch den Europäern, dass sie zusammenstehen müssen. Es ist ein Wendepunkt im europäischen Denken über die eigene Sicherheit, die eigenen Interessen – und die eigenen Werte. (Gerald Schubert, 18.3.2022)