Ernste Blicke, aber einige Fortschritte: Verhandlungsrunde zwischen der Ukraine und Russland.

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Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu versuchte am Mittwoch in Moskau zu vermitteln. Am Donnerstag besuchte er dann die ukrainische Stadt Lwiw.

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Russland: Die Ziele des Kreml sind schwer zu erreichen, und es gibt Zweifel an der Ernsthaftigkeit

Tarnen und täuschen ist das Prinzip. Das gilt im Kreml für die ganze Außenpolitik, und für die Kriegsführung erst recht. Und es gilt, natürlich, auch dort, wo der Krieg eines Tages sein Ende finden könnte: am Verhandlungstisch. Und so lautet die erste Frage, die sich zu Russlands Verhandlungszielen stellt, ob Russland mit den Verhandlungen überhaupt konkrete Ziele verfolgt. Denn viele jener Fachleute, die dem Kreml kritisch gegenüberstehen, hegen daran Zweifel: Schon in Syrien, in Georgien und anderswo habe Russland zahlreiche Gesprächsrunden einberufen, während der Konflikt einfach weiterlief.

Dessen ist man sich auch in der Ukraine bewusst. Olexandr Rodnjanskyj, Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, sprach am Mittwochabend in der ARD-Sendung "Maischberger" von einem möglichen Täuschungsmanöver des Kreml. Dieser wolle sich damit Zeit kaufen, die Truppen neu ausrüsten. Der Kreml-kritische ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow fasste es auf Twitter knapper zusammen: "Waffenruhe" werde im Kreml mit "Nachladen" übersetzt, schrieb er.

Zugleich will es sich weder in der Ukraine noch im Westen jemand leisten, auf Angebote zu Gespräch und Verhandlung nicht zumindest einzugehen. Was der Kreml in den Gesprächen fordert, ist in den vergangenen Tagen etwas klarer geworden. Einerseits weil russische Stellen sich dazu geäußert haben – andererseits auch deshalb, weil erste internationale Medien mit Infos aus Verhandlerkreisen aufwarten.

  • Neutralität Schon vor dem Krieg trug der Kreml die Forderung auf den Lippen, wenn es um die Frage ging, wie Kiew die angedrohten "militärisch-technischen Maßnahmen" der russischen Regierung verhindern könne: die Neutralität, die die Ukraine statt des Nato-Kurses ausrufen solle. Später erklärte Putin, auch das habe keinen Sinn, denn auch ohne Nato-Beitritt sei Kiew in das System der Allianz eingebunden. Nun findet der Kreml die Idee wieder akzeptabel: Neutralität im Stile Österreichs oder Schwedens – also mit einer Armee zur Verteidigung – nannte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow als "Angebot" des Kreml in Verhandlungen. Die Forderung deckt sich mit Berichten des Portals "Axios" und der "Financial Times".
  • Demilitarisierung Was genau Russland unter jener Forderung versteht, die Putin in seiner Rede zum Beginn des "Spezialeinsatzes" aufgestellt hat, ist immer noch offen. Möglich ist eine ganz wörtliche Definition: Russland versucht neben dem direkten Kampf gegen die ukrainische Armee, auch viele militärische Einrichtungen zu zerstören. Zugleich ist die Rede von bestimmten Waffen, die im Falle einer Einigung nicht in der Nähe der russischen Grenze aufgestellt werden sollen – davon sprach vorige Woche Außenminister Sergej Lawrow.
  • Entnazifizierung Anfangs haben viele die Floskel als Synonym für einen von Moskau erzwungenen Sturz der ukrainischen Regierung verstanden. Die Berichte aus den Verhandlungen deuten aber an, dass sich Russland auch mit Gesetzen zum Schutz von russischer Sprache, Religion und Kultur begnügen könnte – und Verboten von Neonazi-Gruppen, die es im ukrainischen Gesetz ohnehin teils schon gibt.
  • Krim und Donbass Russland fordert die Anerkennung der Krim als russisch. Ebenso hat der Kreml die beiden "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk als unabhängig anerkannt – und zwar in den Grenzen der früheren Oblaste, also auch auf Gebiet, das Kiew heute noch kontrolliert. Wie Moskau hier nachgeben könnte, ist offen. Ebenso ist fraglich, was aus den seit Kriegsbeginn von Moskau kontrollierten Gebieten – vor allem der "Landbrücke" von der Krim zum Donbass und dem Zufluss des Krim-Kanals – werden soll.
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Ukraine: Zugeständnisse müssen wohl sein, sind aber schwer durchzusetzen

Wer in einer schwierigen Lage ist, dem fallen manche Antworten leicht. Nein, er glaube nicht unbedingt, dass Russland an ernsthaften Gesprächen interessiert sei, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schon wenige Tage nach Beginn des Krieges. Aber immerhin würden täglich Menschen durch die russische Aggression getötet, jeder weitere Kriegstag bringe neue Schrecken, "also habe ich gesagt: Lass sie doch reden." Entsandt hat er dafür einen Vertrauensmann, seinen Kommunikationsberater Mychajlo Podoljak. Der einstige Journalist hat seither in vier Runden mit den Abgesandten Russlands gesprochen, die meisten davon in Belarus. Zusätzlich finden seit einiger Zeit auch Runden via Video statt – auch am Donnerstag war eine im Gange.

Zugleich tritt Podoljak vermehrt selbst an die Öffentlichkeit – und entsendet dabei meist vorsichtig positive Signale. Am Wochenende sprach er mit der russischen Zeitung "Kommersant" und erklärte, dass die Gespräche bereits weiter gediehen seien als allgemein bekannt. Unter anderem erklärte er, dass auch schon in verschiedenen Arbeitsgruppen gesprochen werde. Später wiederum trat er anderen Berichten öffentlich entgegen. So teilte er mit, dass ein Bericht der "Financial Times" vom Mittwoch vor allem die russischen Vorschläge beinhalte. "Die Ukraine hat eigene Forderungen", die man durchzusetzen versuche. Welche das genau sind, führte er nicht detailliert aus. Schwerpunkte hat Kiew aber bereits mehrfach genannt.

  • Abzug der russischen Armee Primäres Verhandlungsziel Kiews ist, naheliegenderweise, ein Ende der aktuellen Kämpfe und danach ein haltbarerer Waffenstillstand. In Folge möchte die Ukraine einen vollständigen Abzug der russischen Truppen aus dem Land erreichen. Gemeint ist damit aus Kiewer Sicht zunächst die gesamte Ukraine, also auch die Krim und die nur von Russland anerkannten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk. Allerdings, so berichtete zumindest die "Financial Times" zuletzt, hofft Russland darauf, dass die Ukraine hier einer Verlagerung der Gespräche in ein eigenes Format zustimmen könnte. Damit könnte eine sonstige Einigung in Kraft treten und der künftige Status der umstrittenen Gebiete später und unabhängig vom sonstigen Krieg besprochen werden. Eine solche Einigung wäre in Kiew allerdings wohl nur schwer durchzubringen – immerhin glauben viele in der ukrainischen Bevölkerung an einen Sieg der eigenen Truppen –, auch wenn die Regierung selbst vielleicht ahnt, dass die von Russland beanspruchten Gebiete schwer zu halten sein werden.
  • Sicherheitsgarantien Statt der bloßen Neutralität will Kiew Sicherheit vor einem neuerlichen Angriff Russlands haben. Weil man Moskaus Versprechen aus verständlichen Gründen wenig Glauben schenkt, sind dafür aus ukrainischer Sicht Sicherheitsgarantien anderer, westlicher, Staaten nötig. Welche das sein könnten, darüber wird öffentlich geschwiegen. In Berichten ist neben den USA von Großbritannien die Rede. Außenminister Dmytro Kuleba sagte Donnerstag, er hoffe, auch die – für Russland annehmbare – Türkei sei dafür offen. Ob diese Staaten im Zuge einer Einigung zu einer Quasibeistandspflicht bereit wären, ist aber nicht sicher.
  • Reparationszahlungen Kiew schätzt die durch den Krieg entstandenen finanziellen Schäden schon jetzt auf über 500 Milliarden US-Dollar (450 Milliarden Euro). Die Ukraine erwartet sich nach den Worten Podojkas in "Kommersant" dafür Entschädigungszahlungen. Dass Russland, selbst durch die westlichen Sanktionen schwer getroffen, dem zustimmen würde, gilt freilich als äußerst unwahrscheinlich. (Manuel Escher, 17.3.2022)