"Fortschrittskoalition" nannte sich das neue Ampelbündnis am Anfang gern selbst, mittlerweile überschattet der Ukraine-Krieg alles. Finanzminister Lindner (links) und Kanzler Scholz (Mitte links) scheinen gut miteinander zu können, die Grünen (im Bild Robert Habeck, rechts, und Annalena Baerbock, Mitte rechts) haben oft das Nachsehen.

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Nach den ersten 100 Tagen, so heißt es gemeinhin in der Politik, wird Bilanz gezogen. Das gilt natürlich auch für die deutsche Ampel, jene Koalition aus SPD, Grünen und Liberalen also, die seit dem 8. Dezember im Amt ist. Dennoch ist eine innenpolitische Bewertung fast unmöglich, möglicherweise auch unangebracht. Denn wie keine deutsche Regierung zuvor steht die Ampel unter dem Eindruck eines einzelnen Ereignisses, das nicht einmal auf sie zurückgeht: Russlands Krieg gegen die Ukraine. Und dieser hat in Deutschland die Paradigmen in einer Art verschoben, wie man es vor drei Monaten noch nicht einmal ansatzweise hat erahnen können.

"Wir brauchen Fortschritt, denn die Aufgaben, die vor uns liegen, sind riesengroß", das sagte der neue Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Dezember anlässlich seiner ersten Regierungserklärung im Deutschen Bundestag. Als größte Herausforderung sah er damals jedoch die Klimakrise an. Diese zu meistern, hatte sich die Ampel zur Hauptaufgabe gemacht. Nach den eher trägen großkoalitionären Jahren unter Führung von Angela Merkel sollte diesbezüglich ein Aufbruch zu spüren sein. "Fortschrittskoalition" nannte sich das neue Ampelbündnis am Anfang gern selbst.

Noch keine Impfpflicht

Apropos Anfang: Zu Beginn seiner Amtszeit war Scholz mit einer hohen Anzahl von täglichen Corona-Neuinfektionen konfrontiert. So wie in Österreich zunächst geplant, sollte daher auch in Deutschland eine Impfpflicht eingeführt werden. Doch sie gibt es bis heute nicht.

Das Thema ist ohnehin in den Nachrichten weit nach hinten gerückt, denn diese werden natürlich vom Krieg in der Ukraine dominiert. Und die Deutschen finden sich 100 Tage nach Antritt ihres neuen Kanzlers in einer paradoxen Situation wieder: Sie haben mehrheitlich SPD und Scholz gewählt – auch weil sie Kontinuität zu Merkel wollten. Denn Scholz war es, der sich im Wahlkampf als "Erbe von Merkel" inszeniert hatte, inklusive Rautehaltung seiner Hände. Sein Credo: Wählt mich, ich bin die Konstante.

Änderungen in der Sicherheitspolitik

Und nun ist es ausgerechnet Scholz, der ihnen massive Änderungen in der Sicherheitspolitik bringt. Der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine brachte das Aus für die umstrittene Gas-Pipeline Nord Stream 2, die Scholz noch im Dezember als "privatwirtschaftliches Projekt" bezeichnet hatte. Scholz ließ die in Deutschland noch ausstehende Zertifizierung aussetzen. Zudem beschloss die Koalition, nun doch Waffen an die Ukraine zu liefern – zuvor hatte sie dies ausgeschlossen.

Die größte Verblüffung, auch in seiner eigenen Koalition, löste Scholz aber am 26. Februar aus, als er im Bundestag erklärte, die Bundeswehr mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ausstatten zu wollen. "Was für den Frieden in Europa getan werden muss, wird getan", sagte er. Es war der Startschuss zu einer Aufrüstung, wie es sie in Deutschland noch nie gegeben hat. Im Gegenteil: Die Deutschen wollten aus historischen Gründen nie den Eindruck eines militärisch mächtigen Volkes erwecken. Doch der Angriff Russlands auf die Ukraine hat dies verändert. Annalena Baerbock, die erste grüne Außenministerin, kommentierte dies im Bundestag so: "Vielleicht ist es so, dass Deutschland am heutigen Tag eine Form besonderer und alleinstellender Zurückhaltung in der Außen- und Sicherheitspolitik hinter sich lässt."

Baerbock bekommt überhaupt viel Zustimmung. Man erinnere sich an den Wahlkampf, an ihren geschönten Lebenslauf und ihr abgekupfertes Buch. Viele bedauerten damals, dass die Grünen sie zur Kanzlerkandidatin gemacht hatten und nicht Robert Habeck. Doch als Außenministerin macht Baerbock eine gute Figur. Sie trifft den richtigen Ton, ist deutlicher als Scholz, der sich lange geweigert hatte, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mit dem tatsächlichen Aus für Nord Stream 2 zu drohen. Lob bekommt Baerbock sogar aus der Union. So sagt der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) zu ihr: "Wir sind froh, dass Sie in dieser schweren Zeit Verantwortung für unser Land tragen."

Grüne haben das Nachsehen

Die tragen natürlich auch Habeck, der zudem Vizekanzler ist, und Finanzminister Christian Lindner (FDP). Ersterer wollte unbedingt mit der SPD koalieren, Zweiteren musste Scholz erst überzeugen. Doch nun verstehen sich ausgerechnet Scholz und Lindner sehr gut. So gut, dass bei den Grünen schon manchmal Murren zu hören ist. Bevor er die Aufrüstung der Bundeswehr bekannt gab, hat sich Scholz mit Lindner abgestimmt, die Grünen wurden kalt erwischt.

Es wiederholte sich. Vor einigen Tagen ließ Lindner durchsickern, dass er zur Bekämpfung der gestiegenen Spritpreise einen "Tankrabatt" einführen wolle. Er sprach dies nur mit Scholz ab, die Grünen hatten wieder das Nachsehen und Habeck maulte: "Das kann man noch ein bisschen besser machen." Noch dominiert der Krieg in der Ukraine die Berliner Politik. Doch wenn beim nächsten Mal politische Bilanz gezogen wird, könnte es schon anders sein. Dann wird der Fokus stärker darauf liegen, wo es Erfolge gibt. (Birgit Baumann aus Berlin, 18.3.2022)