Kaum erwachsen, musst sich Anna Walentynowicz schon gegen Misshandlung und maßlose Ausbeutung wehren.

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Ergänzend zu unserer Reihe "Geradegerückt" werden wir nun auch nach vor rücken. In der Spin-off-Reihe "Vorgerückt" stellen wir vergessene, kaum gewürdigte und (noch) zu unbekannte, aber beeindruckende Lebensgeschichten vor, die deutliche Spuren hinterlassen haben.

Anna Walentynowicz erhob ihr Leben lang Einspruch. Das brachte ihr zahlreiche Schwierigkeiten ein, was sie allerdings nie besonders zu beeindrucken schien, denn mit widrigen Umständen war sie von Kindesbeinen an konfrontiert. Bereits mit zwölf Jahren musste die im damaligen Polen und im heutigen ukrainischen Riwne am 15. August 1929 geborene Anna weitgehend allein zurechtkommen. Ihr Vater fällt im Zweiten Weltkrieg, ihre Mutter stirbt kurz darauf an einem Herzinfarkt, ihr Bruder wird in die Sowjetunion verschleppt. Anna bleibt allein zurück, sie kommt bei einem Bauer unter, bei dem sie schwer schuften muss. Die Schule ist für sie schon nach vier Jahren vorbei. Sie muss arbeiten.

Nach dem Krieg wird sie nach Danzig vertrieben und muss wieder unter Ausbeutung und auch Misshandlungen arbeiten, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Sie beginnt, sich zu wehren, und zeigt den Bauern an, der sie schlägt, zieht die Anzeige allerdings wieder zurück. Anna flüchtet schließlich vor ihm und findet eine Stelle als Kindermädchen und einen Platz in der Familie eines Armeearztes, wo sie endlich humane Lebensbedingungen vorfindet. Schwere Arbeit prägt das Leben der jungen Frau aber immer. Nach einem Job als Packerin in einer Margarinefabrik kommt sie 1950 schließlich zur Lenin-Werft. Die Arbeit in der Werft wird das gesamte Leben von Anna Walentynowicz, damals noch Anna Lubczyk, prägen. Dort ist sie rasch im Betriebsrat und auch im Frauenrat engagiert.

Entlassungsversuche

Nach einer Lehre als Schweißerin ist das 16 Jahre lang ihr Job in der Werft. Von der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei hielt sie sich trotz ihres Engagements für Arbeiter:innenrechte fern. Walentynowicz blieb zeit ihres Lebens strenge Katholikin, großer Fan von Papst Johannes Paul II. und somit auch Abtreibungsgegnerin. Somit war sie trotz ihres starken Gerechtigkeitssensoriums, ihrer unerschrockenen Machtkritik und des Einsatzes für die Rechte von Arbeiter:innen bei diesem Thema mit dem Gros der Frauenbewegung nicht auf einer Linie. Sehr wohl aber, wenn es um Lohndiskriminierung ging. Zum ersten Mal wird Walentynowicz 1953 verhaftet, weil sie sich offen darüber beschwert, dass Männer mehr Geld erhalten als Frauen, wenn sie über Soll liefern.

Ein Jahr vor ihrer ersten Verhaftung – es sollten viele werden – bekommt Anna Walentynowicz ihren Sohn Janusz, seinen Vater verlässt sie. Die junge Mutter lebt mit einer anderen, fünfköpfigen Familie auf engsten Raum. 1964 heiratet sie Kazimierz Walentynowicz, der ihre große Liebe gewesen sein soll. Doch es bleiben ihr nur sieben Jahr mit ihm, Kazimierz Walentynowicz stirbt 1971 an einer Krebserkrankung. Auch bei Anna wird ein Jahr vor seinem Tod Krebs diagnostiziert, den sie überlebt. Es waren auch jene Jahre, in denen sie in der Lenin-Werft schon kräftig umrührt und damit der Geschäftsführung ein arger Dorn im Auge ist. Für ihre Kolleg:innen hingegen ist sie eine hochgeschätzte Kollegin, die inzwischen als Kranführerin arbeitet. Der Respekt ihrer Kolleg:innen ist es auch, der einen ersten Entlassungsversuch – und es sollten mehrere werden – fehlschlagen lässt. Unerschrocken forderte Walentynowicz 1968 die Geschäftsführung dazu auf, eine Veruntreuung von Hilfsgeldern zu ahnden. Ein Mitglied der Geschäftsführung soll das Geld im Lotto verspielt haben. Die Geschäftsführung warf der Krankführerin vor, die "Arbeit des Kollektivs zu stören".

Jahre des Streikbeistands

Der Aufstand von Arbeiter:innen in vielen polnischen Städten Ende des Jahres 1970 wegen schlechter Lebensbedingungen und enormer Steigerungen der Preise von Konsumgütern forderte laut offiziellen Angaben 49 Menschenleben, die Dunkelziffer ist wohl um einiges höher. Anna Walentynowicz und der spätere Solidarność-Vorsitzende und noch spätere polnische Staatspräsident Lech Wałęsa werden ins Streikkomitee der Werft gewählt. Wałęsa wird entlassen und festgenommen, Walentynowicz steht auf der Kündigungsliste, erst 1970 und dann wieder 1971. Die anderen Arbeiter:innen sammeln Unterschriften für Anna, die schließlich bleiben kann, allerdings von der Geschäftsleitung massiv sekkiert wird. Sie darf mit anderen nicht sprechen und muss in abgeschotteten Bereichen arbeiten.

1980 führt ihr unermüdlicher und öffentlicher Protest gegen schlechte Arbeitsbedingungen doch zur Kündigung. Fünf Monate bevor sie in Pension hätte gehen können. Konkreter Anlass war nun ihr Einsatz für die Freie Küstengewerkschaft, die sie gemeinsam mit Wałęsa gegründet hatte. Die Folge ist ein Streik, bei dem unter anderem die Wiedereinstellung von Walentynowicz und auch von Wałęsa gefordert wird – wobei eine kleine Zusatzforderung der Arbeiter:innen wenig Zweifel daran lässt, wer die beliebtere Streikführerin ist. Walentynowicz sollte mit dem Wagen des Direktors von zu Hause zum Streik in die Werft kutschiert werden. Und so geschah es – gegen den Willen des Direktors. Als die Forderungen der Lenin-Werft erfüllt waren, machte Walentynowicz ihren Mitstreiter:innen klar, dass es in anderen Betrieben noch gewaltig hapert und sie nicht einfach zur Tagesordnung zurückkehren könne. Sie brachte die Menschen in der Werft dazu, aus Solidarität mit den Beschäftigen anderer Betriebe weiter zu streiken.

Die folgenden Jahre waren für Anna Walentynowicz von Streikbewegungen und der Mitbegründung der unabhängigen und selbstverwalteten Gewerkschaft Solidarność geprägt. Aus den langandauernden Streiks der 1980er-Jahre und den so errungenen Erfolgen bei diversen Forderungen zu Streikrecht, sozialen Verbesserungen, Pressefreiheit oder auch der Verpflichtung zur Information der Bevölkerung über die sozio-ökonomische Lage des Landes entstand schließlich die Solidarność, die zentraler Ankerpunkt für die Kritik an den politischen Verhältnissen wird. Anna Walentynowicz ist aber schon 1981, nur ein Jahr nach der Gründung, nicht mehr Teil der Solidarność-Führung. Ihre Kollegen hätten die "Posten unter sich aufgeteilt", sagt sie später. Lech Wałęsa wirft sie seit seiner Verhaftung während des Streiks Anfang der 1970er immer wieder vor, dass er sich damals vom Geheimdienst habe einspannen lassen.

Unerwünschte Schmeicheleien

Als 1981 das Kriegsrecht in Polen installiert wurde, um sowohl die Demokratiebewegungen als auch die Solidarność zu zerschlagen, wird Walentynowicz laufend verhaftet. Bis Mitte der 1980er-Jahre wurde sie immer wieder monatelang eingesperrt. Nach diesen Jahren stand sie vor einer Existenz ohne Arbeit, ohne Pension und ohne jeglichen Besitz, ihre Wohnung wurde während ihrer Gefängnisaufenthalte geräumt. Obwohl die Geschäftsführung der Werft unentwegt versucht hat, sie loszuwerden, und die Regierung sie ständig einsperrte, will man sie für ihre 30-jährige Arbeit in der Werft ehren. Walentynowicz lehnt ab. Sie lebt viele Jahre in prekären finanziellen Verhältnissen, trotzdem lehnt sie 2003 auch eine Ehrenpension ab und forderte stattdessen eine Entschädigung von rund 25.000 Euro für die politische Verfolgung in den 1980er-Jahren. Drei Jahre später werden ihr nur 15.000 Euro zugesprochen – obwohl sie vor allem innerhalb Polens mehr und mehr zu einer bewunderten und vielfach geehrten Persönlichkeit wird.

Doch auch filmische Denkmäler beeindrucken sie nicht. Den Film "Strajk – Die Heldin von Danzig" von Volker Schlöndorff aus dem Jahr 2006, der sich zwar an biografischen und historischen Fakten orientiert, aber dennoch keine Dokumentation ist, kritisierte sie. Fakten seien verdreht worden, und sie verlangte, dass mit dem Abspann der Satz "Dieser Film ist gegen den Willen von Anna Walentynowicz entstanden" eingeblendet wird.

Anna Walentynowicz stirbt am 10. April 2010. Sie sitzt gemeinsam mit dem polnischen Präsidenten Lech Aleksander Kaczyński, zahlreichen anderen Politiker:innen und hochrangigen Kirchenvertretern in einem Flugzeug, das sie zu einer Gedenkfeier für die Opfer der Massenerschießungen von Katyn (Russland) bringen sollte. Das Flugzeug stürzt bei Smolensk nahe der Grenze zu Belarus ab. Anna Walentynowicz wurde 80 Jahre alt. (Beate Hausbichler, 18.3.2022)