Die erfolgreiche französische Autorin Delphine de Vigan ist eine Art literarische Psychotherapeutin. Das Thema der vernachlässigten Kinder durchzieht ihr gesamtes Werk. In ihrem ersten Erfolgsroman No und ich (2007) wird ein hochbegabtes Mädchen von ihren Eltern nicht gesehen, weil diese in einer Trauerspirale über den Verlust der kleinen Schwester gefangen sind. In Loyalitäten (2018) flieht der zwölfjährige Theo in den Alkohol, weil er die Spannungen, unter die ihn seine verfeindeten Eltern setzen, nicht aushält. In Dankbarkeiten (2019) entsteht die Freundschaft zwischen einer jungen und einer alten Frau, weil die Erstere als Kind Zuflucht bei der Zweiten gefunden hatte.

Dazwischen brilliert de Vigan mit autobiografischen Romanen, unter anderem mit Das Lächeln meiner Mutter (2021 auf Deutsch erschienen) über den Selbstmord ihrer bipolaren Mutter, die von ihren Eltern als Kinderstar missbraucht wurde. Die enorme Resonanz auf dieses Buch führt zu einer Schreibblockade, aus der die Autorin sich mit Nach einer wahren Geschichte befreit, für das sie 2015 den Prix Renaudot erhält und das von Roman Polanski verfilmt wurde. In diesem Verwirrspiel um Identitäten, bei dem sich Lesende immer wieder fragen, was wahr und was erfunden ist an dieser Geschichte, in der eine echte Pariser Bestsellerautorin einen Roman über eine fiktive Bestsellerautorin schreibt, beide denselben Namen tragen, in derselben Straße wohnen und denselben Geliebten haben. In diesem Roman, der zwischen Psychothriller, intimem Bericht und Autobiografie oszilliert, spielt sie thematisch schon mit dem Exhibitionismus der Autorin und dem Voyeurismus des Publikums sowie der Sucht nach realem Stoff, nach Authentizität.

In ihrem neuesten, in Frankreich heiß diskutierten Buch greift sie nun mit den Kinder-Influencern ein Phänomen unserer medialen Welt auf, das immer mehr um sich greift und von dem viele trotzdem wenig wissen, vor allem die sogenannten Bildungsbürger nicht, die es für ein Unterschichtenproblem halten.

Vernachlässigte Kinder im Fokus: Delphine de Vigan
Foto: AFP

Manipuliert und ausgebeutet

Delphine de Vigan, die zu diesem Thema durch eine Fernsehsendung gekommen ist, hat gründlich recherchiert, um die Welt kindlicher Influencer und Influencerinnen beschreiben zu können. Die Autorin verschränkt die Geschichte zweier junger Frauen aus unterschiedlichen sozialen Milieus: einmal Melanie, aus einer kleinbürgerlichen Provinzfamilie, deren Zentrum der Fernseher ist, und Clara, Tochter eines unkonventionellen, politisch engagierten linksliberalen und fernsehlosen Paares. Beide Mädchen sind um die 14 Jahre alt, als in Frankreich das Reality-TV populär wird, das Melanies Leben verändert. Bei Clara gibt es jetzt auch einen Fernseher, es dürfen aber nur Dokus und politische Sendungen angeschaut werden. Melanie wird glühender Fan von Loft Story, der französischen Version von Big Brother, ein Format, das 2001 einen Wendepunkt in der Fernsehgeschichte einläutet: Zwei Drittel der 15- bis 25-Jährigen und die Hälfte aller Haushalte haben damals zugeschaut.

Melanie, eine mäßig begabte Halbwüchsige, träumt seither davon, berühmt zu werden, und eifert dem damaligen Star der Serie, Loana, nach – allerdings ohne Erfolg. Sie schafft zwar ein Casting zu der ersten Staffel der obskuren Serie Rendezvous im Dunkeln, scheitert aber schon am ersten Abend, da sie viel zu unbedarft ist. Einige Zeit später findet sie auf dem Internetportal Attractive World ihren "Traummann", einen Mann, dessen Profil ein Match mit ihrem war. Im selben Jahr kommt Sammy zur Welt, zwei Jahre später Kimmy.

Clara hat in dieser Zeit ihren Jus-Abschluss gemacht und sehr zum Entsetzen ihrer linksliberalen Eltern die Aufnahmeprüfung für die Polizeihochschule bestanden. Das Schicksal der beiden jungen Frauen verbindet sich, als die sechsjährige Kimmy eines Tages spurlos verschwindet und Clara, die inzwischen in der Kripo aufgestiegen ist, die Ermittlungen übernehmen muss. Anhand vieler Hundert Videos entdeckt Clara "eine Welt, deren Existenz unsere Vorstellungskraft übersteigt". Ihre Recherchen, die in Polizeiprotokollen dokumentiert werden, klären auch uns auf: Dieses Mädchen war in der echten Welt verschwunden, aber "in einer Parallelwelt aufgewachsen, einer ganz und gar künstlichen Welt, einer virtuellen Welt, die sie, Clara, nicht kannte. Diese Welt gehorchte Regeln, über die sie nicht das Geringste wusste." Ihre Recherche enthüllt nun das Martyrium von Melanies Kindern, wie sie über Jahre von ihrer internetsüchtigen Mutter manipuliert und ausgebeutet wurden. Melanies Sehnsucht nach Popularität ist bestimmend geblieben, und mit den neuen technischen Möglichkeiten – jeder kann heute selbst filmen, sich zu Hause in Szene setzen und sich sein eigenes Publikum schaffen – lässt sich diese auch erreichen.

Rekrutiert für eine Sekte

Um ihren Babyblues zu überwinden und der Leere und Langeweile ihres Daseins zu entfliehen, hatte Melanie, die alle Codes noch aus ihrer Loft Story-Zeit kennt, begonnen, ihre Kinder zu vermarkten. Die Szenarien sind simpel: einkaufen, auspacken, konsumieren, möglichst viele Stunden am Tag. Die Antwort auf die Frage, die sich Clara und auch Leser und Leserinnen stellen: Wie konnte all das geschehen? Nach Ansicht der Autorin ist das denkbar einfach: Viele Eltern sind froh, wenn ihre Kinder beschäftigt sind, und haben keine Bedenken, sie diesem Konsumterror auszusetzen, da die Filme zwar armselig sind, aber ohne Gewalt und nicht pornografisch, was die gestressten Eltern praktisch finden.

Die Hintergründe sind weniger schön: Kinder werden rekrutiert wie für eine Sekte. Die Filmchen sind erfolgreich, sie zeigen die Schokoladenseiten ihres Lebens, bringen Geld ein, sodass die Eltern aufhören zu arbeiten, um sich ganz der großen Ausbeutung ihrer süßen Kleinen widmen zu können, eine neue Form der Kinderarbeit, von niemandem beklagt. Ganze Familie hängen von solchen Videos ab, das Kind wird nicht gefragt, die Gewalt im Schoß der Familie nicht wahrgenommen, aufkommende Lustlosigkeit mit Konsum zugeschüttet. Jahreseinkommen über eine Million Euro, das alles in einem weitgehend rechtsfreien Raum.

Melanie hat sich mit ihren Vermarktungsstrategien erfolgreich als omnipräsente Übermutter von Kimmy und Sammy inszeniert. Aber eines Tages bricht auch in diese scheinbar heile Youtube-Welt das Grauen ein. Kimmy verschwindet, Melanie glaubt an eine Entführung aus Neid auf ihr perfektes Leben und ihren Reichtum.

Delphine de Vigan, "Die Kinder sind Könige". Aus dem Französischen von Doris Heinemann. € 23,95 / 320 Seiten. Dumont- Verlag, 2022

Im Netz verschwindet nichts

Man spürt Delphine de Vigans Engagement mit dem Thema, vor allem die Frage, was aus diesen Kindern wird, die so früh als Stars behandelt werden, Millionen von Followern haben, aber keine einzige Freundin und keinen Spielkameraden, treibt sie um. Mit der Pandemie hat sich alles noch verschärft: Der Rückzug ins Private macht die Medien noch mächtiger, die Entfremdung noch größer. In Frankreich hat die Diskussion immerhin zur Verabschiedung eines Gesetzes geführt, das die Rechte der Kinder-Influencerinnen und -Influencer stärkt, indem es ein Recht auf digitales Vergessen einführt. Aber wie ein berühmter Psychiater am Schluss des Buches in einem Interview erklärt: "Die Bilder dieser Kinder sind unendlich oft vervielfältigt und kommentiert worden. Sie werden niemals verschwinden. Im Internet verschwindet gar nichts … Daran kann kein Gesetz etwas ändern."

Um die Spätfolgen der schönen neuen Influencer-Warenwelt zu zeigen, verlängert die Autorin die Handlung bis ins Jahr 2031. Die Kinder haben alle Brücken zu Melanie abgebrochen, ihr Mann verlässt sie. Sie selbst verbleibt in ihrer virtuellen Barbiewelt und hört nicht auf, sich selbst zwischen allen Produktplatzierungen in Szene zu setzen, die "Best-of ihres Lebens"-Videos schlagen alle Rekorde. Ihre Tochter Kimmy trägt inzwischen Tarnkleidung, um in der Masse unterzugehen. Die Autorin stellt ihrem Roman einen Satz von Stephen King voran: "… wir hatten die Chance, die Welt zu verändern, und haben stattdessen auf das Home Shopping Network gesetzt …" Das Zitat stammt aus dem Jahr 2000. (Barbara Machui, 20.3.2022)