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Vor allem in den Vororten Kiews ist die Zerstörung groß, Wohnhäuser sind unbewohnbar. Die Hälfte der Einwohner ist geflohen.
Foto: REUTERS

Es sind Erzählungen wie aus einem anderen Leben, die drei Wochen nach dem Beginn der russischen Invasion von nahezu jedem Kiewer, ob geflohen oder geblieben, zu hören sind. Denn wirklich sichere Orte gibt es in der Ukraine nicht mehr. Selbst in Transkarpatien, dem westlichsten ukrainischen Regierungsbezirk, ertönte in den letzten Tagen erstmals die Sirene: Luftalarm. Und auch in der westukrainischen Region Lwiw, die als Hauptziel für innerukrainische Flüchtlinge gilt, wurde eine Militärbasis beschossen.

Die Hauptstadt selbst, aus der nach Angaben von Bürgermeister Witali Klitschko bis heute schon jeder zweite Bewohner geflohen ist, erlebte diese Woche zum zweiten Mal seit Beginn des Kriegs eine Ausgangssperre, die mit der Angst vor russischen Sabotagetrupps begründet wurde. Noch am Wochenende wollte Walerija, Ende 20, Englischlehrerin an einer Kiewer Uni, allen schwierigen Umständen zum Trotz ein wenig Alltag genießen und fuhr mit ihren Freunden in ein ausnahmsweise offenes Kaffeehaus in der Nähe der Innenstadt. Drei Stunden lang wurde geplaudert. Dabei ging es überraschenderweise nicht nur um den Krieg, sondern sogar um Musik.

Maxym nahm seinen Kater Jens mit in den Luftschutzkeller.
Foto: privat

Doch der immer lauter werdende Kampflärm in ihrem Kiewer Randbezirk sowie die Tatsache, dass in der Hauptstadt mittlerweile regelmäßig auch Wohnhäuser zerstört werden, haben Walerija zur kurzfristigen Ausreise in ihren südlicher gelegenen Geburtsort bewegt. Sie nutzte eine Mitfahrgelegenheit – eine Fahrt voller Gefahren.

"Wir haben erst im Nachhinein verstanden, dass eine potenzielle Saboteurin versucht hatte mitzufahren", erzählt sie. "Sie machte am Telefon sehr unterschiedliche Angaben zu ihrem Aufenthaltsort, kannte sich augenscheinlich nicht aus und war überhaupt nicht enttäuscht, als wir ihr gesagt haben, sie sollte nicht mehr anrufen. Sie wollte wohl vor allem erfahren, welche Ausfahrtswege es aus der Stadt noch gibt."

Die Mission von Mykyta Manujilow, dem jungen Betreiber eines georgischen Restaurants in der Kiewer Unterstadt, war es dagegen, seine Verlobte ins Ausland zu bringen. Mit einem Evakuierungszug sind die beiden erst nach Transkarpatien im äußersten Westen der Ukraine gefahren, wo sie zwei Nächte im Skigebiet Bukowel untergebracht waren. "Das war eine surreale Zeit. Ich musste Dascha beruhigen, obwohl ich selbst gar nicht ruhig war", berichtet er. Mittlerweile ist Dascha schon bei Bekannten in Frankreich. Manujilow selbst hat sich auf dem Heimweg zurück ins umkämpfte Kiew Alkohol besorgt, dessen Verkauf im Moment eigentlich verboten ist – und hat fast alles in einem völlig leeren Zugsabteil Richtung Hauptstadt ausgetrunken. "Ging nicht anders", sagt er.

Männer begleiten ihre Angehörigen an die Grenze und kehren dann um.
Foto: IMAGO/Ukrinform

Am Laufen halten

Sein Restaurant beschäftigt sich immer noch damit, Essen für Bedürftige zu kochen – das nennt Manujilow selbst "Essensfront". Er will sie nicht verlassen. Sein Alltag bestand zuletzt überwiegend aus der Kommunikation mit dem Roten Kreuz und der zwischenzeitlichen Flucht vor Beschuss in den Keller, wo sich mittlerweile auch die Restaurantküche befindet – auch die Kiewer Unterstadt bekommt inzwischen einiges vom Krieg mit. "Die Stimmung ist aber den Umständen entsprechend okay. Wir haben recht viel Arbeit und konnten uns halbwegs anpassen", sagt er.

Worüber sich Manujilow aber auch Gedanken macht, ist die mögliche Einberufung an die echte Front. Er ist zwar noch nicht unmittelbar an der Reihe, ist aber trotz fehlender militärischer Erfahrung von der Mobilmachung betroffen. Noch kann er die Gedanken daran, mit der Waffe in den Krieg zu ziehen, verdrängen.

Die Buchhalterin Alina und der Musiker Mark, beide Mitte 20, wollten eigentlich in Kiew bleiben, zumal ihr Stadtteil, obwohl zentral gelegen, lange als sicher galt. Doch auch für sie war die Nervosität, die in der Stadt angesichts der nahen Kämpfe herrscht, schlicht zu viel. Sie entschieden sich, Kiew zu verlassen. "Wir haben dann doch ständig Explosionen gehört. Sie waren wohl weiter weg, aber irgendwann war es genug." Eine Herausforderung war für die beiden, einen Vermieter in der Westukraine zu finden, für den ihre Katze und ihr Hund kein Problem ist – und auch ein Auto, um Tiere und Tiernahrung zu transportieren. "Allein der Futtersack war ja 15 Kilogramm schwer", sagt Alina.

Meir Maman kocht in Moldau für Geflüchtete.
Foto: Daniela Prugger

Während sie nun mindestens einen Monat an einem relativ sicheren Ort verbringen wollen, ist der 37-jährige Maxym Krawez, Mitarbeiter einer Sportwettenagentur, zu Hause mit seinem Kater Jens, benannt nach dem Fußballer Lehmann und dem Radprofi Voigt, in seiner Wohnung in der gleichen Gegend geblieben. "Jens war der Star in unserem Luftschutzkeller, dem Keller eines Fitnessstudios", meint Maxym, der inzwischen die Nächte trotz Alarms eher in seinem Korridor verbringt. "Dem Kater gefällt es dort sogar besser als auf meinem Bett", scherzt er. Ein bisschen Humor und Optimismus schaden in dieser schweren Zeit tatsächlich nicht.

Als Mann muss Maxym bleiben. Fast drei Millionen Menschen haben sich mittlerweile aber dafür entschieden, ihr Heimatland zu verlassen, und sind wie Mykytas Freundin Dascha über die polnische, rumänische, slowakische, ungarische oder moldauische Grenze geflohen.

"Wir haben alle geweint"

Dort treffen sie auf Menschen wie Meir Maman, einen israelischen Chefkoch, der nicht auf die Schilderungen der Geflüchteten vorbereitet war, die ihm in der Republik Moldau begegnen. Zumindest aber weiß er, wie man bis zu 5000 Mahlzeiten pro Tag zubereitet. Maman wird normalerweise für große Events, Partys oder Hochzeiten in seiner Heimatstadt Jerusalem oder in Tel Aviv gebucht. Seit zwei Wochen managt der 57-Jährige mit einem kleinen Team die Versorgung von jüdischen Geflüchteten aus der Ukraine in Moldau.

Der strenge Blick des Kochs schweift über die glänzenden Behälter aus Stahl, in denen das vorgeschnittene Gemüse bereitliegt. Auf den abgepackten Aluminiumschalen steht "Pasta für die Kinder". "Wir kochen kein abgehobenes Essen, sondern Gerichte, die einen an die Oma erinnern, an die Eltern", sagt der 57-Jährige und rührt im großen Kochtopf.

Maman steht in der sechs Quadratmeter-großen Küche eines Pubs in der Chișinăuer Innenstadt, dessen Türen aufgrund der Pandemie zwei Jahre lang geschlossen waren. "Wir haben die Küche neu ausgestattet und die Einrichtung, die Arbeitsflächen, den Ofen koscher gemacht", sagt er und führt aus der Küche hinaus in die mit Holz verkleideten Räume. An den Wänden erinnern Werbeschilder der Brauereimarke Guinness an die Zeit, als hier vor allem Bier getrunken wurde. Auf den Fotos sind lokale Stadtbekanntheiten zu sehen, die dem Laden vor Corona häufig Besuche abstatteten.

Die lokale jüdische Gemeinde hilft bei der Ausreise nach Israel.
Foto: Daniela Prugger

Heute tönen aus dem Radio in der Ecke laute, für die Lokalität unangebrachte Technoklänge, während Hilfsarbeiter der lokalen jüdischen Gemeinde an einem großen Tisch Gemüse schneiden. Die jüdische Gemeinde und die Hilfsorganisation United Hatzalah aus Israel haben das Lokal für unbestimmte Zeit gemietet. Denn gerade aus der Hafenstadt Odessa, die man vor dem Krieg von Chișinău aus in dreieinhalb Stunden mit dem Auto erreichen konnte, fliehen viele aus der jüdischen Gemeinschaft hierher. "Wir verstehen leider sehr gut, was es bedeutet, alles zurückzulassen und zu flüchten", sagt Maman. Die Propaganda des Kremls sowie der Umstand, dass während der russischen Angriffe auf die ukrainische Hauptstadt Kiew neben Zivilisten und Wohnhäusern auch die Holocaust-Gedenkstätte Babyn Yar getroffen wurde, seien schlichtweg absurd. "Putin zeigt mit dem Finger auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der selbst jüdisch ist, und spricht dabei von Entnazifizierung", sagt er. Als er von der israelischen Rettungsorganisation vor zwei Wochen gefragt wurde, ob er in Chișinău bei der Versorgung von Geflüchteten helfen könne, habe er nicht gezögert.

Stundenlange Fußmärsche

Von den geschätzt 200.000 Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaft in der Ukraine dürfen viele nach dem Rückkehrgesetz in Israel einwandern – vor allem dann, wenn sie dort Verwandte haben. Zwölf Flugzeuge mit mehr als 1500 Menschen hat die Hilfsorganisation seit Kriegsbeginn aus Moldau nach Israel entsendet, obwohl der Flugverkehr im Land seit Beginn des Kriegs eingestellt wurde. "Gestern haben wir wieder mit den Menschen gesprochen und sie gefragt, was sie essen möchten, ob es ihnen schmeckt", sagt Maman. "Sie haben uns ihre Geschichten erzählt, dass sie stundenlang zu Fuß gelaufen sind, 20, 30 Kilometer. Sie beklagen sich nicht, sie bedanken sich einfach nur. Wir haben alle geweint." (Denis Trubetskoy aus dem Oblast Schytomyr, Daniela Prugger aus Chisinau, 19.3.2022)