Sergej Karjakin hätte durchaus Chancen gehabt, ein zweites Mal Weltmeister Magnus Carlsen zu fordern. Doch der Russe steht sich selbst im Weg.

Sergej Karjakin hat sein Gehirn deaktiviert. Das ist keine bloße Unterstellung, das schreibt der russische Schachprofi selbst in den sozialen Medien: "Ich stehe auf der Seite meines Präsidenten. Egal was passiert, ich werde mein Land in jeder Situation unterstützen, ohne eine Sekunde nachzudenken." Dabei, so könnte man annehmen, ist Denken die Stärke des Großmeisters. 2012 war Karjakin Weltmeister im Schnellschach, 2016 Weltmeister im Blitzschach. Mittlerweile scheint der 32-Jährige den Blitzkrieg vorzuziehen. "Ich wünsche unserer tapferen Armee eine möglichst rasche Lösung", schrieb Karjakin am 27. Februar in einem offenen Brief an Wladimir Putin.

Der Twitter-Account des Sergei Alexandrowitsch Karjakin könnte ebenso gut vom russischen Ministerium für Kommunikation betrieben werden. Desinformation ist das erste Mittel der Wahl. Am Montag zog der Weltschachverband (Fide) Konsequenzen und schloss Karjakin für sechs Monate von allen Wettkämpfen aus. "Die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Äußerungen von Karjakin mit dem Schachspiel in Verbindung gebracht werden können und den Ruf des Spiels schädigen. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Äußerungen das Ansehen von Karjakin schädigen, ist ebenfalls beträchtlich", heißt es in einem Statement. Der russische Schachverband kündigte eine Berufung gegen das Urteil an. Der Betroffene zeigt sich indes nicht geläutert: "Ich bereue nichts."

Karriere in Gefahr

Karjakin wurde 1990 in Simferopol geboren und trat zunächst als Hoffnungsträger für die Ukraine an. 2009 wurde der Mann russischer Staatsbürger, als Einwohner der Krim habe er sich schon immer als Russe gefühlt. Karjakin versprach sich mehr Unterstützung, die Russen versprachen sich einen neuen Weltmeister. Und beinahe wäre die Rechnung 2016 in New York aufgegangen. Als Gegner von Magnus Carlsen verlor der Russe den Titelkampf im allerletzten Moment. 2022 wird sich Karjakin wohl nicht revanchieren können. Der Herausforderer wird ab 16. Juni beim Kandidatenturnier in Madrid ermittelt. Sollte die Sperre nicht aufgehoben werden, fällt Karjakin aus. Wie schwer würde der Verlust für den Sport wiegen? "Die Weltspitze ist sehr dicht. Der Schaden ist für Karjakin bestimmt größer als für den Schachsport", sagt Walter Kastner, Generalsekretär des Österreichischen Schachbundes (ÖSB), im Gespräch mit dem STANDARD.

Aber warum riskiert ein hochtalentierter Spieler wie Karjakin seine sportliche Karriere? Ist es Druck? Ist es Überzeugung? Dass es auch anders geht, haben 44 russische Top-Schachspieler und Schachspielerinnen unter Beweis gestellt. In einem offenen Brief an Wladimir Putin haben sie sich Anfang März entschieden gegen den Krieg ausgesprochen und ihre Solidarität mit den Menschen in der Ukraine zum Ausdruck gebracht. Unter anderem wurde das Schreiben von Carlsens letztem Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi unterzeichnet.

Reaktion der Fide

Die Rückendeckung der Fide ist den Profis sicher. Russische und belarussische Nationalmannschaften wurden zwar von Turnieren ausgeschlossen, einzelne Spieler dürfen unter der Fahne der Fide jedoch weiterhin an den Wettkämpfen teilnehmen. Beim Kandidatenturnier wird man Nepomnjaschtschi also sehen. Bereits im Februar hatte sich der Weltschachverband klar positioniert und "bestehende Sponsorenverträge mit russischen und belarussischen Unternehmen, die staatlich kontrolliert werden", gekündigt. Die flotte Reaktion ist bemerkenswert, Fide-Präsident Arkadi Dworkowitsch war als Ökonom lange Zeit einer der engsten Berater Putins.

Auch in der Ukraine wird Schach gespielt. Der ÖSB bietet Spielern und Spielerinnen auf der Flucht Hilfe an. Kastner: "Die Mutter eines jungen Spielers hat sich bei uns gemeldet. Wir sehen uns als Anlaufstelle. Wir wollen möglichst rasch und unkompliziert helfen." (Philip Bauer, 22.3.2022)