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Foto: Getty Images/Montage: Der Standard

An das letzte Mal, als sie ihre Tochter getroffen haben, können sich Gabriele und Otto* noch genau erinnern. Es war an Gabis Geburtstag vor vier Jahren. Sie waren in einem Lokal, Anja* saß ihnen mit ihrem Partner gegenüber. Sie gab knappe Antworten und ging nach Hause, kaum war abserviert. "Sie hat uns gesagt, dass sie schwanger ist." Eine Nachricht, über die sie sich sehr gefreut haben, sagen Otto und Gabi.

Ihren Enkel haben sie nie kennengelernt. Denn seit jenem Tag herrscht Funkstille zwischen ihnen und ihrer Tochter. Um den errechneten Geburtstermin herum schrieb Gabi ihrem Schwiegersohn. Zurück kam eine Nachricht: "Ja, das Kind ist da. Wir melden uns, wenn wir es für richtig halten." Bis jetzt hielten sie es offenbar nicht für richtig.

Seitdem quält Otto und Gabi die Frage nach dem Warum. Haben sie beim letzten Treffen zu viele Fragen gestellt? Waren sie ihrem Schwiegersohn gegenüber nicht wertschätzend genug? Oder liegt die Ursache weiter zurück? War es ein Zuviel an Förderung in Anjas Kindheit? "Als sie Klavier lernen wollte, habe ich sie unterstützt, aber nie verlangt, dass sie Profi wird." Dass es trotzdem zu viel war, nämlich so viel, dass Anja den Kontakt abbrechen musste, hätte er nie erwartet, sagt Otto.

Von ihren beiden Töchtern sei Anja immer die angepasstere gewesen, erzählt seine Frau. "Sie war das Kind, von dem wir beide das Gefühl hatten, dass es uns ähnlicher ist." Von ihrem Vater hatte Anja die Begeisterung für Musik, von ihrer Mutter die Hilfsbereitschaft. "Wir haben sie wahrscheinlich vereinnahmt, und irgendwann muss es ihr zu viel gewesen zu sein. Sie hat es in ihrer Freundlichkeit nicht geschafft, Grenzen zu setzen. Die einzige Möglichkeit für sie war dann dieser harte Bruch", sagt Gabi. Aber sie kann bloß mutmaßen. Eine Erklärung ihrer Tochter steht aus.

Einfach weg

In etlichen Therapiesitzungen arbeitete das Paar den Verlust auf. Es sei schmerzhaft, dass ihre Tochter zwar in derselben Stadt lebt, aber ihre Eltern weder sehen noch hören will. Fachleute sprechen in so einem Fall von einem "uneindeutigen Verlust".

"Es ist vergleichbar damit, dass jemand nach einer Naturkatastrophe nicht mehr auftaucht oder dement wird", sagt Gisela Kurath. Die psychosoziale Beraterin hat vor drei Jahren eine Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern gegründet. Manche Mitglieder sehen ihre Kinder zwar noch ab und zu, aber die Treffen werden immer seltener. Andere haben seit Jahrzehnten keinen Kontakt. Gemein sei allen, dass es ihnen schwerfällt, ihre Geschichte zu erzählen. "Sie haben das Gefühl, sie seien gescheitert, wenn sie nicht einmal mehr ihr eigenes Kind gerne hat."

Kurath sagt, dass ein Kontaktabbruch überraschend häufig in gutbürgerlichen Familien vorkomme, "die bis zu dem Zeitpunkt gedacht haben, dass sie funktionieren". Die betroffenen Eltern hätten sich viele Gedanken über Erziehung gemacht und wollten ihren Kindern etwas bieten. Die wiederum hätten aber das Gefühl, nicht frei atmen zu können. Manchmal sind jedoch auch psychische oder physische Gewalt die Gründe, dass jemand keinen Kontakt mehr will. Für die Expertin ist es jedenfalls ein Phänomen, das aktueller ist denn je. Früher seien Probleme eher totgeschwiegen worden, und man arrangierte sich, weil man aufeinander angewiesen war.

Laut Schätzungen bricht etwa jedes 25. Kind den Kontakt zu seinen Eltern ab. Anders als die Eltern organisieren sich die Kontaktabbrecherinnen und Kontaktabbrecher nur selten in Selbsthilfegruppen. "Ihr Blick ist meist nach vorn gerichtet, ihre Aufmerksamkeit geht nicht nach hinten zu den Eltern, sondern in die Zukunft", sagt Kurath.

An kurzen Zügeln

Andrea* hat seit mittlerweile zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter. Als Jugendliche litt sie unter deren strengem Regime. Andrea durfte nur ausgehen, nachdem sie gute Noten geschrieben und den Garten umgegraben hatte. "Meine Mutter hat immer gesagt, sie müsse mich an kurzen Zügeln halten, weil ich sonst werde wie mein Vater, nämlich unverlässlich und ein Taugenichts."

Zugleich hatte sie das Gefühl, "niemand interessiert sich für mich und dafür, wie es mir geht". Ihrer Mutter sei es vor allem um die eigenen Bedürfnisse gegangen. "Sie war die Königin, um die sich alles gedreht hat." Andrea fühlte sich nicht gesehen – als Kind nicht, als Teenager nicht und auch nicht als junge Frau, als sie sich in einer sehr herausfordernden Phase ihres Leben befand und sich Unterstützung wünschte. Als sie ihre Mutter damit konfrontierte, stand diese vom Tisch auf und sagte "Ich wünsche dir ein schönes Leben, ohne mich" und ging. "Ich habe mich dann auch nicht mehr gemeldet", erzählt Andrea.

Sie wollte sich nicht länger disziplinieren und schlechtmachen lassen, sondern mehr auf sich selbst achten. "Ich hatte auch das Gefühl, dass ich meine eigene Familie vor dieser Übergriffigkeit schützen muss." Sie denke nach wie vor häufig an ihre Mutter. "Aber ich weiß, dass die Mutter, die ich mir zurückwünsche, nicht meine reale Mutter ist, sondern meine idealisierte Mutter – die es so vielleicht niemals gegeben hat."

Nicht mehr abheben

"Es war Selbstschutz", sagt auch Lukas* über den Kontaktabbruch zu seiner Mutter. Er war zwanzig, als er und seine drei jüngeren Geschwister beschlossen, nicht mehr abzuheben, wenn sie anruft. "Sie hat so viel Terror verbreitet. Es gab viel Schreierei, Erniedrigungen und Androhungen, was nicht alles passieren wird, wenn wir nicht folgen." Zudem habe seine Mutter den Vater über Jahre betrogen und von ihren Kindern Stillschweigen eingefordert.

Den Kontakt abzubrechen sei "das letzte Mittel zum Zweck" gewesen, als Gespräche zu nichts führten. "Es war zweieinhalb Jahre lang absolute Funkstille – bis sie dann zum ersten Mal einsichtig war und verstand, dass sie Mist gebaut hat." Seine Mutter habe ihr Verhalten geändert, nun trifft Lukas sie wieder regelmäßig. Unlängst war er sogar mit ihr auf einem Kurzurlaub. "Erstaunlicherweise hat unsere Beziehung einen ziemlich normalen Charakter bekommen."

Expertinnen und Experten schätzen, dass 70 Prozent aller abgebrochenen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern wieder gekittet werden. Sich darauf zu versteifen sei jedoch der falsche Weg, sagt Gisela Kurath. Ihre Selbsthilfegruppe hat sie daher "Das Haus von morgen" genannt. Es gehe ums Abschließen und darum, sich auf eine Zukunft ohne das Kind einzustellen. "Wenn jemand mit sich selbst beschäftigt ist, ist er auch nicht ständig mit der Aufmerksamkeit beim anderen, ruft nicht dauernd an oder schickt Nachrichten. Der andere bekommt Luft."

Im Hier und Jetzt

Otto und Gabi haben sich vorgenommen, nicht zu viel zu hadern und ihr Leben zu leben. "Wir haben zum Glück viele Freunde, ich hatte beruflich immer viel zu tun und mache gerne Musik", sagt Otto. Auch seine ältere Tochter sieht das Paar häufig.

Anja begegneten sie einmal zufällig auf der Straße. Die junge Frau schob einen Doppelkinderwagen vor sich her – sie hatte inzwischen einen zweiten Buben bekommen. "Sie meinte, dass sie sich nicht in ein Gespräch verwickeln lassen will", sagt Gabi. Zum Geburtstag und zu Weihnachten schicken sie und ihr Mann den Kindern Geschenke. "Die Umschläge dürfen nur so groß sein, dass sie in den Briefkasten passen, damit sie sie nicht von der Post abholen müssen." Denn das würden sie nicht tun, so die Befürchtung. Ganz selten senden sie auch eine SMS, "nur um zu zeigen, dass es uns noch gibt". Ihre Fantasie: dass ihre Enkel eines Tages vor der Tür stehen und Oma und Opa kennenlernen möchten.

Für den Fall, dass ihre Tochter sich wieder meldet, wollen sie mit sich im Reinen sein. "Wenn die Tür aufgeht, und da steht jemand, der zornig ist oder der heult, wird sie gleich wieder zugehen", sagt Gabi. Sie wollen dann auch nicht mehr über Vergangenes sprechen, über das Warum und Wieso. "Wir werden sagen: Schön, dass wir uns wiedersehen. Lassen wir das, was war. Fangen wir neu an." (Lisa Breit, 23.3.2022)