Die Wissenschafterinnen Arnhilt Inguglia-Höfle und Susanne Rettenwander zeichnen im Gastblog das Leben und Werk Friederike Mayröckers nach.

Friederike Mayröcker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien als Einzelkind der Modistin Friederike (geb. Pecavar) und des Lehrers Franz Xaver Mayröcker geboren. Einigen Selbstdarstellungen zufolge, die in ihrem Werk verstreut zu finden sind, gehen ihre ersten lyrischen Schreibversuche auf das Jahr 1939 zurück. In ihrem Prosatext „ich saß dann da und starrte auf dieses Bild, die Erinnerung“ findet sich beispielsweise folgender Rückblick auf die Kriegsjahre:

Ich wanderte dann umher und im Hinterhof eines Abbruchhauses sah ich einen kahlen Strauch der plötzlich zu brennen begonnen hatte, es war ein Pfingsttag. Ich wanderte dann umher und kauerte nieder und schrieb im Anblick des brennenden Busches mein erstes Gedicht.

Die durch den Zweiten Weltkrieg isolierte 15-Jährige widmete sich der exzessiven Lektüre von Büchern, die bald zum Lebensinhalt wurden. So bekennt sie in ihrer Erzählung „Reise durch die Nacht“ (1984): „[…] existenzbedrohende Vorstellung […] nicht genügend Bücher zur Verfügung zu haben.“ Ihr eigenes Schreiben entwickelte sich aus der aktiven Lesepraxis und begann, als „alle diese Lieblingsbücher […] zu Ende gelesen und zu Ende exzerpiert“ waren.

Friederike Mayröcker um 1934.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek
Österreichische Nationalbibliothek

Erste Veröffentlichungen

Während sie ab 1946 als Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Mittelschulen arbeitete und 1950 ihre Matura nachholte, schrieb sie schon täglich Gedichte. Einige ihrer frühesten Texte, zum Beispiel „an meinem Morgenfenster“ (1946) oder „Vision eines Kindes“ (1947), veröffentlichte sie in der von Otto Basil herausgegebenen avantgardistischen Zeitschrift „PLAN“, die vor allem jungen Lyrikern und Lyrikerinnen eine Plattform bot. Als sie 1954 auf der „5. Österreichischen Jugendkulturwoche Innsbruck“ auf ihren späteren Lebensgefährten, den damals noch unbekannten Ernst Jandl traf, konnte sie bereits auf eine Vielzahl an Veröffentlichungen in unterschiedlichen Zeitschriften, Anthologien und Zeitungen zurückblicken.

Eine künstlerische Lebensbeziehung

Kurz nach ihrem Treffen in Innsbruck gingen Mayröcker und Jandl eine fast fünf Jahrzehnte anhaltende partnerschaftliche und insbesondere künstlerische Lebensgemeinschaft ein, die mit Jandls Tod im Jahr 2000 endete. Da diese ganz dem Schreiben untergeordnet war, folgte sie einer disziplinierten Routine. Beide gingen vormittags ihrem Brotberuf als Lehrkräfte nach und widmeten die Nachmittage getrennt voneinander dem Schreiben. An den Abenden besuchten sie sich gegenseitig in den jeweiligen Wohnungen im fünften beziehungsweise zweiten Wiener Gemeindebezirk.

Friederike Mayröcker und Ernst Jandl in Rohrmoos-Untertal, um 1980.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Etablierung einer bedeutenden Schriftstellerin

Während Jandl zum international gefeierten Dichter avancierte, dessen experimentelle Poesie mit ihrer multimedialen Performance vollendet wurde, fand die zurückgezogene Mayröcker ihren eigenen charakteristischen Schreibstil zwischen traditioneller und experimenteller Literatur. Nach der Veröffentlichung ihrer ersten Gedichte folgten in den kommenden Jahrzehnten eine Vielzahl an Gedichtbänden, von ihrem Debüt „Larifari. Ein konfuses Buch“ (1956) zu „Tod durch Musen“ (1966), „Notizen auf einem Kamel“ (1996) und „dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif“ (2009). Mit „Das Licht in der Landschaft“ legte sie 1975 ihren ersten Prosaband im Suhrkamp-Verlag vor, der sie schließlich als Stammautorin aufnahm.

1969 legte sie ihren Lehrberuf endgültig nieder und bezog ab 1977 eine bescheidene Frühpension. Mit verschiedensten Auftragsarbeiten für den Rundfunk sicherte sie ihr Einkommen zusätzlich ab. In den 1980er-Jahren erfolgte ihr literarischer Durchbruch mit ihren Prosawerken „Die Abschiede“ (1980), „Reise durch die Nacht“ (1984) und „Das Herzzerreißende der Dinge“ (1985).

Wechselte sie zunächst noch strikt zwischen Lyrik und Prosa, drang sie in ihrem späteren Werk zunehmend an die Grenzen der literarischen Gattungen vor und löste diese zugunsten eines unverwechselbaren persönlichen Schreibstils auf. In ihrer späten Trilogie „études“ (2013), „cahier“ (2014) und „fleurs“ (2016) spricht Mayröcker nur noch von poetischen „Fetzchen“ und „Splitter“.

Bis zu ihrem Lebensende – Mayröcker verstarb am 4. Juni 2021 an Altersschwäche in Wien – schrieb sie über hundert Werke, die nicht nur unterschiedlichsten Genres zugeordnet werden können, sondern in denen sie sich kontinuierlich stilistisch weiterentwickelte und ihr Leben und Schreiben reflektierte. Ihr Nachlass befindet sich im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.

Filmstill von Friederike Mayröcker in „Das Schreiben und das Schweigen“, 2009.
Foto: Österreichische Nationalbib./C. Tartarotti

 "FÜR ERNST" und weitere Zeichnungen

Mit dem Titel „FÜR ERNST am 21.4.70“ schuf Mayröcker eine liebevolle Alltagspoesie. Sie wählte dafür gemäß den vorangestellten Zeilen – „Hände weg vom BUCH… (etc) (oder zurück zum Bilder-Buch)“ – das grafische Erzählen. Sie bediente sich an Stilmitteln, die für Comics typisch sind, wie Sprechblasen oder die sogenannten Panels, also Einzelbilder, die die Seitenarchitektur strukturieren.

In „FÜR ERNST“ beschreibt sie den Ablauf eines Tages ohne den Lebensgefährten. Jandl befand sich gerade in München. Die Erzählung besteht aus vier Reihen und einer Sequenz von insgesamt zehn nummerierten Panels, die „Dem Zug der Zeit“ folgen, wie sie oben auf der Seite ankündigt.

Friederike Mayröckers „FÜR ERNST am 21.4.70“.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Chronologisch erfahren wir, wie sie am Dienstag, den 21. April 1970, morgens um halb acht aufsteht. Als sie das Telefon klingeln hört, fragt sie sich, ob es Ernst Jandl („E?“) sein könnte. Hier wird bereits deutlich, dass die Verwendung des roten Stifts, der die strikte monochromatische Farbgebung durchbricht, insbesondere Ton und Geräuschen vorbehalten ist. Es folgt ein Gang im Regen in die Schule, wo ein „Gesuch“ abgegeben wird. Sie fährt anschließend um halb elf mit dem Taxi in die Untere Augartenstraße 1-3, Jandls Anschrift. Im Selbstporträt in Panel 5 stellt die Protagonistin achselzuckend fest, „no (essential) mail“, keine wichtige Post.

Um halb zwölf fährt sie mit dem Taxi in die Mariahilferstraße weiter, um sich mit einem „Levi“-Oberteil auszustatten, das zur Schnürlsamt-„Levi“-Hose passt. Das Kleidungsstück ist, wie der beigefügte Text in Klammern erläutert, für die „Film-Aufnahmen“ an der Ostsee im September des Jahres vorgesehen.

Um 13 Uhr isst sie zu Mittag, zwischen 14 und 17 Uhr führt sie „Dauer-Telefonate“. Eine nicht vollständige Liste der Gesprächspartnerinnen und -partner mit Stichworten bringt ihr Ohr zum Glühen; der Ton ist wiederum rot eingezeichnet. Auffällig ist, dass das Telefon- wie auch das Einkaufspanel jeweils viel Zeit, viel Text und dementsprechend mehr Platz in der Reihe beanspruchen, sodass sie das regelmäßige Erzähltempo der oberen Hälfte (je drei Panels pro Zeile) durchbrechen. Es ist nur mehr Platz für zwei Panels nebeneinander. Die grafische Kurzgeschichte endet mit dem selbstreferentiellen Liebesbriefchen und „tausend Bussi“.

Schreiben und Zeichnen

"FÜR ERNST“ ist nur eines von vielen Werken Mayröckers, bei denen sie bewusst mit der speziellen Vielschichtigkeit des grafischen Erzählens und dem Spannungsverhältnis von Bild und Text arbeitet.

In den Beständen des Literaturarchivs befinden sich unbekanntere und auch unveröffentlichte Zeichnungen und ganze Zyklen, wie der „ABC-thriller“ und die „KINDER Ka-LAENDER“. Viele Werke sind Jandl gewidmet. So zum Beispiel die „16 Schutzgeister für E“ von 1967, eine Serie an A4-Blättern mit je zwei engelartigen Gestalten, die ihn etwa vor der „Unsicherheit des Daseins“, der „Angst vor Dunkelheit“, oder vor „Hunger, Durst, Mangel an Zigaretten“, schützen sollen.

Friederike Mayröcker: „Schutzgeister für E“.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

In ihrem kurzen und vielzitierten programmatischen Statement „zu meinen Zeichnungen“ von 1983 bezeichnete Mayröcker ihre Zeichnungen als „Kritzeleien ohne jeglichen Formenreichtum“, die wohl etwas von ihrem „(altgewordenen) Kindsein“ offenbaren. Es handle sich um Spontangedichte mit Bleistift oder Filzstift, deren Thematik eingeschränkt sei auf „Alltagskummer, Einsamkeitsgefühle, Identifikation mit Tieren, besonders Katzen und Hunden".

Tatsächlich zeigen sich Ästhetik, Entstehungsweise und Thematik der Zeichnungen über die Jahrzehnte erstaunlich konstant. Typisch ist die Verknappung der Bildsprache: in Strichmännchen-Optik werden Körperformen nur schematisch wiedergegeben oder auf Silhouetten reduziert, Gesichtszüge werden meist nur mit wenigen Linien und Punkten angedeutet.

Mayröcker selbst sah sich nie als bildende Künstlerin. Das Verhältnis ihrer Zeichnungen zu ihren Texten charakterisierte sie folgendermaßen:

meine Zeichnungen und Bildgedichte entstehen am Rande meiner Schreibarbeit, sie sind für mich unerhebliche Randbemerkungen, die meist nach oder während längerer oder schwieriger Hauptarbeiten zur eigenen Überraschung und Freude erscheinen, sie sind vielleicht etwas wie Ausruhen, Atemholen. […] Insgesamt sind meine Zeichnungen Spiele, die ich mit mir selber spiele, und genau das Gegenteil von meinen Texten.

Spielerisch und spontan

Es ist unter anderem genau dieser Selbsteinschätzung geschuldet, dass Mayröckers eigene Zeichnungen bisher wenig literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten haben und wenn, dann nur am Rande behandelt worden sind. Im Gegensatz dazu ist ihre zeitlebens sehr intensiv ausgeübte poetische Beschäftigung mit der Bildenden Kunst ausführlicher erfasst. 2010 wurde Mayröcker zum Ehrenmitglied der Akademie der bildenden Künste Wien ernannt. In der Laudatio wurde ihr „kunstförmiges Schreiben über Kunst“ besonders hervorgehoben. Zu den zahlreichen Gemeinschaftsarbeiten mit Künstlerinnen und Künstlern zählen unter anderem erfolgreiche Kinderbücher mit der Illustratorin Angelika Kaufmann.

Friederike Mayröcker: Selbstporträt.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Auffällig ist die Differenz von Selbstaussage und tatsächlicher Gestaltung der Zeichnungen, auf die beispielsweise die Philologin Michaela Nicole Raß aufmerksam macht. Mayröckers Zeichnungen sollten, so Raß, nicht ausschließlich als Prä- oder Subtexte des Mayröcker’schen Werks begriffen werden. Als polyvalente Konstrukte kombinieren sie zwei unterschiedliche Zeichensysteme und Verweisstrukturen, die in direktem Bezug zu den zentralen Motiven, Metaphern und Thematiken ihrer Texte stehen. Auch wenn die Autorin selbst die spielerische und spontane Entstehung der Zeichnungen im Affekt – im Gegensatz zu den immer und immer wieder überarbeiteten Texten – suggeriert, sind sie mit ihrer strengen Formelhaftigkeit, kompromisslosen Subjektivität und Komplexität ebenso Teil ihres poetologischen Konzepts.

Dass Werke, wie „FÜR ERNST“, mehr als nur unerhebliche Nebenprodukte des Schreibens sind, brachte die Philosophin Elisabeth von Samsonow in ihrem Nachruf auf Friederike Mayröcker auf den Punkt:

Diese kürzelartigen, mit der Spracharbeit innigst verschränkten Zeichnungen heben die Text-Bild-Dichotomie aus den Angeln, indem inmitten, oder dazwischen, zwischen Bild und Text, ein Quell des poetischen Sinns entspringt.

(Arnhilt Inguglia-Höfle, Susanne Rettenwander, 30.3.2022)

Arnhilt Inguglia-Höfle ist Stellvertretende Leiterin des Literaturarchivs und des Literaturmuseums, Susanne Rettenwander ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.

"Friederike Mayröcker: FÜR ERNST" ist bis 15. Mai 2022 im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek zu sehen.

Die Langfassung des Beitrags finden Sie hier.

Literaturverzeichnis

Akademie 2021 = Akademie der Bildenden Künste Wien (2021): Die Akademie trauert um ihr Ehrenmitglied Friederike Mayröcker (1924-2021).

Mayröcker 1983a = Friederike Mayröcker (1983): Ich saß dann da und starrte auf dieses Bild, die Erinnerung, in: Dies. (2001), Magische Blätter I-V, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 58-61.

Mayröcker 1983b = Friederike Mayröcker (1983): zu meinen Zeichnungen, in: Dies. (2001): Magische Blätter I-V, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 216.

Mayröcker 1986 = Friederike Mayröcker (1986): Reise durch die Nacht, Berlin: Volk und Welt.

Raß 2014 = Michaela Raß (2014): Bilderlust – Sprachbild: Das Rendezvous der Künste. Friederike Mayröckers Kunst der Ekphrasis, Göttingen: V&R unipress.