40 Prozent der europäischen Gasimporte kommen derzeit aus Russland – ein viel zu hoher Prozentsatz, wie immer mehr Kritiker meinen.

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Fast über Nacht ist in vielen europäischen Hauptstädten die Erkenntnis gereift, dass die starke Abhängigkeit von russischem Erdgas fatal ist, erpressbar macht und im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg von Wladimir Putin in der Ukraine auch moralisch bedenklich ist. Allenthalben wird nun nach Alternativen gesucht; eine Art hektische Reisediplomatie in Sachen Gas ist seit Wochen beobachtbar.

Es ist aber leichter gesagt als getan, neue Gasquellen zu identifizieren bzw. bestehende Lieferverträge abseits der russischen substanziell auszuweiten. Ein Blick auf die Hauptstränge bestehender Pipelines zeigt ein Übergewicht an Leitungen aus nordöstlicher Richtung. Sie gehen in Russland weg und enden irgendwo in Westeuropa.

Mit jeder neu verlegten Röhre und jedem neu geschlossenen Liefervertrag ist die Abhängigkeit von russischem Gas gestiegen. 40 Prozent der in Europa verbrauchten Menge kommen über Nord Stream 1, Yamal, Transgas oder wie die Pipelines aus Sibirien sonst noch heißen, wobei Länder wie Spanien, Portugal oder Luxemburg gar kein Gas aus Russland beziehen; andere wie Ungarn, die Slowakei oder Bulgarien hängen zu fast 100 Prozent am russischen Tropf. Österreich liegt mit 80 Prozent Gas aus Russland im oberen Drittel.

Norwegen zweitwichtigster Lieferant

Woher kommt das restliche Gas? Norwegen rangiert mit einem Anteil von 38 Prozent an zweiter Stelle. Etwas Gas kommt aus Nordafrika, das seinen Weg über Pipelines vor allem nach Italien und Spanien findet. Der Rest ist LNG (Liquefied Natural Gas), wobei der überwiegende Teil des verflüssigten Erdgases aus den USA kommt. Die Eigenproduktion in Europa, die vor 20 Jahren noch substanziell zur Gasversorgung beitrug, ist stark rückläufig.

Norwegen, das mit seinen in den 1970er-Jahren entwickelten Öl- und Gasfeldern in der Nordsee reich geworden ist, möchte in die Bresche springen. Erst jüngst wurde gesagt, man wolle die Erdgasförderung in den kommenden Monaten erhöhen und im Sommer mehr Gas nach Europa liefern. Allein durch angepasste Genehmigungen der Regierung für das Oseberg-Feld in der Nordsee könnten die Lieferungen bis Ende September um etwa eine Milliarde Kubikmeter (m3) gesteigert werden, ließ etwa der Betreiber Equinor wissen.

Tropfen auf heißen Stein

Das ist nicht nichts, im Endeffekt aber auch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Zum Vergleich: 2021 haben die EU-Länder im Schnitt rund 140 Milliarden m3 Erdgas importiert, das sind mehr als 380 Millionen m3 pro Tag. Dazu kamen 15 Milliarden m3 LNG. Und wie viel kam über das Pipelinesystem aus Russland? An die 150 Milliarden m3. Die Abhängigkeit Schritt für Schritt zu verkleinern sei möglich, sagen Experten. Ein radikaler Schnitt hingegen hätte gewaltige Verwerfungen und Massenarbeitslosigkeit in Europa zur Folge, weil weit und breit so rasch kein Ersatz für russisches Gas zu finden sei.

Auch wenn gemäß den EU-Klimazielen Erdgas langfristig als Brennstoff keine Rolle mehr spielen wird – kurz- und mittelfristig führt nach allgemeiner Einschätzung kein Weg daran vorbei, zumal gewisse Prozesse wie die Stahl- oder Zementproduktion nicht kurzfristig auf Wasserstoffbetrieb umgestellt werden können.

Prinzip Hoffnung

Mehr Gas aus Nordafrika? Auch das scheint zumindest auf kurze Sicht illusorisch. Algerien, der Hauptlieferant in der Region, hat die Gasproduktion über Jahre vernachlässigt. Auch wenn sie wollten, die Algerier könnten kurzfristig gar nicht mehr liefern.

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Am Ende der Reise wird das verflüssigte Erdgas in Anlandeterminals wieder in gasförmigen Aggregatzustand gebracht, in Pipelines eingespeist und zu den Endabnehmern geliefert.
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Bleibt LNG. Knapp 30 große Anlandeterminals gibt es derzeit in Europa – viel zu wenige, wie Experten sagen. Schon jetzt staut es sich. Bis neue Terminals stehen, vergehen Jahre. Deutschland, das noch über keinen einzigen LNG-Terminal verfügt, möchte zwei, vielleicht sogar drei bauen. Die erste Anlandestation in Deutschland, wo verflüssigtes Erdgas wieder in gasförmigen Zustand gebracht wird, könnte 2025 stehen – bestenfalls.

Und dann wäre noch die Frage, woher das LNG beziehen. Eine österreichische Delegation mit Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) an der Spitze ist unlängst in Katar vorstellig geworden. Man hoffe, dadurch etwas vorgereiht zu werden, sagte der Bundeskanzler. (Günther Strobl, 23.3.2022)