Daten, die Sensoren direkt im Gehirn aufnehmen, werden von einem Computer in Echtzeit dekodiert und in Buchstaben umgewandelt, aus denen ein vollständig gelähmter ALS-Patient Sätze bilden kann.
Foto: Wyss Center

In Österreich leben Schätzungen zufolge etwa 800 bis 900 Menschen mit dieser Krankheit: Die amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, ist eine unheilbare Erkrankung des Nervensystems, bei der jene Neuronen degenerieren, die für die Muskelsteuerung verantwortlich sind. Die Ursachen sind unklar, genetische Faktoren könnten aber eine Rolle spielen. Bekannt geworden ist ALS vor allem durch Stephen Hawking. Der am 14. März 2018 in Cambridge verstorbene britische Astrophysiker litt an einer chronisch juvenilen Form von ALS mit einem vergleichsweise langsamen Krankheitsverlauf. Seit 1968 war der Wissenschafter auf einen Rollstuhl angewiesen, ab 1985 bediente er sich eines Sprachcomputers, den er anfangs mit einem Finger, später mit der Wangenmuskulatur steuerte.

Eingesperrt

Andere Varianten von ALS können einen deutlich schnelleren Verlauf nehmen: Manche Betroffene verlieren schon nach wenigen Jahren völlig die Kontrolle über ihre Muskulatur. Mediziner sprechen vom "Completely Locked-in"-Stadium, bei dem die Patienten bei klarem Verstand und mit Sinneswahrnehmungen in ihrem Körper gefangen sind, ohne eine Möglichkeit, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Um diesen Menschen aus ihrer Isolation zu helfen, gibt es bereits einige Ansätze, die unter anderem auf der Messung und Interpretation von Gehirnaktivität beruhen.

Dass man sich dabei auf einem richtigen Weg befinden könnte, zeigt nun der Erfolg einer internationalen Forschungsgruppe: Mithilfe von eingepflanzten Gehirnelektroden, Computern und leistungsfähiger Software ist des den Wissenschaftern gelungen, einem vollständig gelähmten ALS-Patient die Stimme wiederzugeben – freilich in einfacher Form und mit viel Geduld. Wie das Team unter Co-Leitung von Jonas Zimmermann vom Wyss Center of Bio- and Neuroengineering in Genf im Fachjournal "Nature Communications" berichtet, habe der 37 Jahre alte Patient aus Deutschland mit einer sogenannten Hirn- Computer-Schnittstelle (kurz BCI) im Verlauf mehrerer Monate gelernt, sich auf Satzebene mitzuteilen.

Elektroden im Gehirn

Invasive BCIs sind wenige Millimeter kleine, im Gehirn chirurgisch implantierte Geräte, die mit Elektroden Hirnströme aufzeichnen und in Steuersignale umwandeln. Bis es aber zu einer echten Kommunikation kam, war es ein langer, anstrengender Weg. Erst rund hundert Tage nach der Operation war der Studienteilnehmer allmählich dazu in der Lage, seine Bedürfnisse zu äußern.

Die implantierten Mikroelektroden besitzen eine Größe von nur 3,2 Quadratmillimeter.
Foto: Wyss Center

In Zusammenarbeit mit den Forschenden lernte der Mann in dieser Zeit, wie man mithilfe einer Computersoftware Gehirnaktivitäten erzeugt, die zunächst die Frequenz von Schallwellen verändern können. Um schließlich Wörter und Sätze zu bilden, lernt der Computer, den Feuerraten der Neuronen in der Hirnregion des motorisches Kortex ein "Ja" und "Nein" zuzuordnen. Indem das Programm Buchstaben laut vorliest, konnte der Patient bejahen oder verneinen, ob er den entsprechenden Buchstaben verwenden möchte. So gelang es ihm, durchschnittlich ein Zeichen pro Minute zu bilden.

Wunsch nach Gulaschsuppe und Bier

So langsam und mühselig sich das auch anhört, "wenn Sie die Wahl zwischen keiner Kommunikation und einer Kommunikation von einem Zeichen pro Minute haben, fällt die Entscheidung nicht schwer", sagte Co-Leiter der Studie Ujwal Chaudhary von "ALS Voice" in Mössingen, Deutschland. Am Tag 251 fragte der Mann seinen vierjährigen Sohn, ob er mit ihm den Disneyfilm "Robin Hood" schauen wolle. Außerdem bat er im Scherz um Gulaschsuppe und ein Bier und eine Kopfmassage. Sein größter Wunsch, so berichtete seine Familie, sei ein neues Bett, und dass er mit ihnen zum Grillen rauskomme.

Die experimentelle Behandlung des Deutschen liefere den Beweis, dass willentliche Kommunikation selbst für völlig in ihrem Geiste isolierte Menschen möglich sei, schließen die Forschenden. Das war bisher keineswegs bewiesen. Zimmermann dämpft jedoch die Erwartungen: "Es handelt sich um einen Konzeptbeweis mit einem einzigen Patienten", sagte der wissenschaftliche Leiter des Projekts.

Stecker im Kopf

Ziel sei, eine klinische Studie mit mehr Patienten durchzuführen, wofür man derzeit neue Elektroden-Implantate entwickle, die komplett einwachsen würden. In prä-klinischen Tierstudien soll die Sicherheit eines solchen Implantats geprüft werden. Das beim ALS-Studienteilnehmer verwendete ist über einen Stecker und ein Kabel mit dem Computer verbunden. "Der Stecker stellt ein Infektionsrisiko dar, weil die Wunde ständig offenbleiben muss", sagte Zimmermann.

Video: Das System ermöglicht die Kommunikation von "Completely Locked-in"-Patienten.
Wyss Center for Bio and Neuroengineering

Heikle Hirn-Computer-Schnittstellen

In nicht allzu ferner Zukunft könnten Hirn-Computer-Schnittstellen vielen ALS-Patienten helfen. Dieser Meinung ist Anne-Lise Giraud Mamessier. Die an der Universität Genf und dem Institut de l"Audition in Paris tätige Neurowissenschafterin war nicht an der Studie beteiligt. Bis es so weit sei, seien aber noch einige technologische Hürden und solche zur besseren Decodierung von Sprachabsichten zu überwinden.

Auch bestehe eine Schwierigkeit darin, genügend erfolgreiche Konzeptnachweise zu erbringen, um Patienten davon zu überzeugen, sich einer Hirnoperation zu unterziehen. So betont auch sie die Wichtigkeit der Elektroden. "Sie sollten so sicher wie möglich sein und eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit für Infektionen und Hirnschäden aufweisen", so Giraud Mamessier.

Neben Jonas Zimmermann und Ujwal Chaudhary zählt auch der deutsche Hirnforscher Niels Birbaumer zu den Studienleitern. Birbaumer und Chaudhary publizierten bereits im Jahr 2017 eine Studie, wonach vier ALS-Patienten kommunizierten lernten – mithilfe einer Sensoren bestückten Kopfhaube. Die Studie wies jedoch methodische Mängel auf, das Fachmagazin "Plos Biology" zog sie schließlich zurück. Den Forschern wurde wissenschaftliches Fehlverhalten beim Umgang mit Daten vorgeworfen. Die Thesen selbst waren nicht Gegenstand des Verfahrens.

Rechtsstreit um Sperre

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) schloss Birbaumer für fünf Jahre, Chaudhary für drei Jahre von jeder Gutachtertätigkeit sowie Antragsberechtigung aus und behielt sich vor, bewilligte Förderung zurückzufordern. Während Chaudhary dies akzeptierte, hatte Birbaumer 2020 Klage dagegen eingereicht.

Dem Verlag Springer Nature zufolge, der die aktuelle Arbeit publizierte, sind die wissenschaftlichen Begutachter der Studien aufmerksam gegenüber Kontroversen in den einzelnen Fachgebieten. Entsprechend sorgfältig gingen sie vor. Aus Gründen der Vertraulichkeit könne man sich aber nicht zum redaktionellen Werdegang einzelner Beiträge äußern, schrieb eine Sprecherin auf Anfrage.

Die Neurowissenschafterin Giraud Mamessier weist darauf hin, dass andere Studien gezeigt hätten, dass eine Decodierung von binären Entscheidungen – also "Ja"- und "Nein"-Aussagen – möglich sei. Die vorgefallene "Episode" habe ihre Meinung gegenüber Birbaumers Forschung nicht geändert, ebenso wenig wie ihre Meinung über seinen "aufrichtigen Willen, Lösungen zur Verbesserung der Lebensqualität von Locked-in-Patienten zu finden". Die Ergebnisse der vorliegenden Studie erachtet sie als "sehr plausibel". (tberg, red, APA, 23.3.2022)