Mark Leonard, Direktor des European Council on Foreign Relations, analysiert in seinem Gastkommentar Europas geopolitische Situation. Und er stellt vier Fragen, die die Politik lösen muss.

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Wladimir Putin an seinem "weißen Tisch".
Foto: Reuters / Sputnik

In seinem Buch "Masse und Macht" aus dem Jahr 1960 bemerkte der Schriftsteller Elias Cannetti, dass paranoide Autokraten, die sich selbst als "Überlebende" definieren, leere Räume brauchen, in denen sie jede nahende Gefahr sehen können. Die einzig zuverlässigen Untertanen sind die, die für sie in den Tod gehen. Mit jeder Exekution, die Diktatoren anordnen, gewinnen sie mehr "Macht des Überlebens".

Wie könnte man Wladimir Putin besser beschreiben? Russlands Alleinherrscher sitzt gerne allein am Ende eines langen weißen Tisches, wenn er Ultimaten ausspricht, Invasionen befiehlt oder die Verhaftung (oder Ermordung) politischer Gegner anordnet. Putin hat seine Macht mit blutigen Kriegen in Tschetschenien, Georgien, Syrien und der Ukraine zementiert. Er muss die Existenz anderer beenden, um selbst zu überleben.

Der Ukraine-Krieg hat Europa ein Umdenken in Sicherheitsfragen aufgezwungen.
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Nun hat Putin den Überlebensinstinkt anderer geweckt. Der Ex-Schauspieler und jetzige Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, hat sich zum Helden gemausert und verkörpert den Existenzkampf seines Landes. Die Nato ist aus ihrem schleichenden "Hirntod" erwacht. Und die Europäische Union hat sich von einem nach innen gerichteten Friedensprojekt in eine Souveränitäts- und Sicherheitsgemeinschaft verwandelt.

"Europa muss sich auf ständige Spaltung und Unordnung vorbereiten, zumindest solange Putin an der Macht bleibt."

Bei der Krise, in die Putin Europa gestürzt hat, geht es aber nicht nur um Sicherheit. Es geht um Philosophie. Das europäische Projekt beruht auf dem Gedanken, dass ehemalige Feinde durch wirtschaftliche, rechtliche und (schließlich) politische Abhängigkeiten zu Freunden werden können. Von außen gesehen wirkt der Krieg in der Ukraine wie eine militärische Intervention des 20. Jahrhunderts. Dieser Konflikt spielt sich aber nicht hinter einem eisernen Vorhang ab. Seine Parteien sind zutiefst miteinander verwoben und er wird nicht nur mit Flugzeugen und Panzern geführt, sondern auch mit Sanktionen, Lieferketten, Finanzströmen, Informationen und digitalen Bits.

Diese Superverflechtung macht einen stabilen Frieden unmöglich. Europa muss sich auf ständige Spaltung und Unordnung vorbereiten, zumindest solange Putin an der Macht bleibt. Für ein neues Konzept der europäischen Ordnung muss die Politik vier Fragen lösen.

Grenzen definieren

Erstens: Wohin gehören die Grenzen Europas und die Grenzen der Nato? Über viele Jahre haben sich die Europäerinnen und Europäer nur dann mit Grenzen beschäftigt, wenn es darum ging, sie im Inneren zu beseitigen – oder zu senken, um einen unabhängigen Kosovo anzuerkennen. Die genauen Umrisse der Europäischen Union und der Nato waren eher vage. Jetzt muss darüber diskutiert werden, wer reingehört und wer draußen bleibt.

"Ungarn, die Türkei und Serbien werden sich für eine Seite entscheiden müssen."

Diese messerscharfe Trennung wird zu einem kleineren, jedoch stärker geeinten Westen führen. Schweden und Finnland könnten der Nato beitreten, Länder, die sich alle Optionen offenhalten wollen, können aber nicht mehr mit Toleranz rechnen: Ungarn, die Türkei und Serbien werden sich für eine Seite entscheiden müssen. Ein weiterer Streitpunkt sind Länder, die der EU beitreten wollen, für eine Mitgliedschaft aber nicht die nötigen Kriterien erfüllen: die Ukraine, Moldau, Georgien und die westlichen Balkanländer. Einige europäische Diplomaten sprechen bereits über ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, durch das diese Länder einen beschränkten Zugang zum Binnenmarkt, zur Energieunion oder zum Green Deal erhalten.

Gewaltiger Wiederaufrüstungsschub

Die zweite Frage lautet, ob Europa für eine regionale Ordnung bereit ist, die nicht auf Regeln und Institutionen, sondern auf einem Gleichgewicht der Kräfte basiert. Der alte Traum einer Ordnung mit Russland ist geplatzt und wurde durch eine Ordnung gegen Russland ohne gemeinsame Institutionen oder Vertrauen ersetzt. Dies wird zu einem gewaltigen Schub der Wiederaufrüstung führen, der in Deutschland und Dänemark bereits begonnen hat. Außerdem steht eine neue Debatte über Militärbasen und Atomwaffen an, die Europas Aufmerksamkeit (und vermutlich Ressourcen) von ihrem globalen multilateralen Engagement abziehen wird.

Frage der Resilienz

Drittens: Hat Europa eine politische Basis für den Aufbau wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Resilienz? In Connectivity-Kriegen, das sind Konflikte zwischen voneinander abhängigen Mächten, sind Geduld und Leidensfähigkeit die Schlüssel zum Erfolg. Die Sanktionen gegen Russland finden zurzeit breite Unterstützung, die aber womöglich nachlässt, wenn die Öl- und Gaspreise weiter stark steigen und eine Rezession auslösen.

Die Institutionen der EU haben eben erst einen gewaltigen Aufbaufonds eingerichtet, der verhindern soll, dass die Corona-Krise die EU auseinanderreißt. Jetzt denken sie über neue Solidaritätsmechanismen nach, die Verbraucherinnen und Verbrauchern dabei helfen sollen, mit den steigenden Energiepreisen und anderen Dominoeffekten durch die Sanktionen zurechtzukommen. So oder so wird Europa seine Energiemärkte, Lieferketten und Finanzen umstrukturieren müssen – mit enormen weltweiten Auswirkungen.

Wieder im Zentrum der Weltbühne

Die letzte große Frage lautet, ob Europa Teil einer regionalen Ordnung ist oder einer globalen. Noch vor ein paar Wochen galt Europa als geopolitischer Zuschauer des wichtigsten Kampfes im 21. Jahrhundert: der Schlacht um die Kontrolle im Indopazifik. Der neue europäische Krieg und die immer engere Partnerschaft zwischen China und Russland hat Europa und "Eurasien" wieder ins Zentrum der Weltbühne gerückt. Wie Jeremy Shapiro vom European Council on Foreign Relations schreibt, muss die Nato sich jetzt mit den Demokratien in Asien vernetzen, ihre Politik abstimmen und sogar ihre Ressourcen auf die europäische und die pazifische Bühne aufteilen.

Nach Ansicht vieler Beobachter lebt Putin mit seinen historischen Fantasien und Umzingelungsängsten in einer anderen Welt. Doch diese Metapher leugnet die Tatsache, dass unsere Schicksale eng verwoben sind. Es spielt keine Rolle, in welcher Welt (oder Ära) Putin zu leben glaubt. Solange er im Kreml sitzt, ist Europa nicht sicher.

Kampf ums Überleben

Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen die Welt, in der sie leben wollen, mit der Welt, die Putin ihnen aufgezwungen hat, in Einklang bringen. Manche werden nun sagen, der Fortschritt auf dem Weg zu einer auf Regeln basierenden umweltbewussten Welt, sei immer illusorisch gewesen. Ich bin aber weiterhin davon überzeugt, dass die gemeinsame Nutzung von Souveränität in Europa, die Entwicklung supranationaler Regulierungssystem und Kooperation in den Bereichen Technologie, Umweltschutz und Gesundheit unserer Zivilisation gewaltige Vorteile verschafft.

Heute ist Geopolitik in Eurasien wieder ein Kampf ums Überleben. Die ultimative Frage lautet darum, wie wir die Werte von Kants ewigem Frieden innerhalb der EU bewahren und uns gleichzeitig gegen Gefahren aus dem umliegenden Dschungel verteidigen können. (Mark Leonard, Copyright: Project Syndicate, 24.3.2022)