Ai Weiweis Bilderflut: statische Farbenpracht und Ärzte, die gegen Corona kämpfen.

AFP/Opera di Roma

Zwölf Stunden bevor im Teatro dell’Opera der Vorhang fiel, hatte es in Rom schon einmal in einem theaterähnlichen Ambiente Applaus gegeben: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte sich am Vormittag in einer Videoschaltung mit einem dramatischen Appell an das italienische Parlament gewandt und Hilfe für sein Land erbeten. Dass die römische Premiere von Turandot in der Regie von Ai Weiwei auf denselben Tag fiel wie Selenskyjs Auftritt vor dem Parlament, war aber natürlich ein Zufall. Bei der Planung des Stücks war auch nicht vorauszusehen gewesen, dass bei der Premiere in Europa wieder ein mörderischer Krieg wüten würde. Die Produktion von Puccinis Turandot war an sich für 2020 geplant gewesen, sie wurde jedoch ein Opfer der Pandemie.

Menschen in Schutzanzügen

Dennoch: Der Krieg zieht sich wie ein roter Faden durch die Inszenierung von Ai Weiwei, der vor Jahrzehnten in New York als Statist bei einer Inszenierung von Franco Zeffirelli bei Turandot etwas Geld verdiente. Und über das Kriegsthema findet der debütierende Opernregisseur auch zum Drama der Flüchtlinge, zu Isolation, zum Aspekt des Hasses und der ihm folgenden Zerstörung. Der Aufführungsort spielt hier eine gewisse Rolle: Das Bühnenbild wird eingerahmt und geprägt von Ruinen des antiken Rom und einer stilisierten Weltkarte.

Auf den Hintergrund projiziert der 64-jährige chinesische Konzeptkünstler, Bildhauer, Autor und Aktivist Videobilder von Menschen in Schutzanzügen in der Covid-Geisterstadt Wuhan. Man sieht auch Flüchtlingslager in der syrischen Wüste, zudem auch jene Polizisten und Soldaten, die 2019 die demokratischen Proteste in Hongkong niedergeknüppelt haben. Sein Bühnenbild mit den Ruinen des antiken Rom, so betonte Ai Weiwei, verweise "auf die heutige Welt, die mit Kriegen ihre eigene Vergangenheit zerstört und diese damit für immer verlieren wird". Die Oper sei ihm persönlich dabei ein Mittel, den "Wert des Friedens zu verteidigen".

Gleichzeitig sieht Ai Weiwei in Puccinis letzter Oper – der italienische Komponist starb 1924 vor deren Vollendung – eine Interpretation purer Liebe, die zur Selbstaufopferung führe. Der Freitod der Sklavin Liù (Francesca Dotto), die sich im letzten Bild ein Schwert ins Herz rammt, um dem von ihr heimlich und verzweifelt geliebten Prinzen Calaf (der amerikanische Tenor Michael Fabiano) das Leben zu retten, ist für Ai Weiwei eigentlich eine Hommage.

Die Oper ist gleichsam eine Widmung Puccinis an den "Kraftakt einer Person, die etwas eigentlich Unmögliches versucht". In Rom lässt man sie übrigens mit diesem die Dramatik verstärkenden Opferbild enden. Man verzichtet auf jene Version, bei der der Komponist Franco Alfano Turandot nach Puccinis Skizzen vervollständigt hat.

Es war nicht geplant, aber wegen der russischen Invasion in der Ukraine erlangt schlicht auch das Engagement der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv an sich eine zusätzlich bemerkenswert brisante politische Note. Auch die Titelrolle der Puccini-Oper, jene der chinesischen Prinzessin Turandot, war mit Oksana Dyka besetzt worden, die ebenfalls aus dem kriegsversehrten Land stammt. Für Oksana Lyniv, 1978 in der Kleinstadt Brody unweit von Lwiw im Westen der Ukraine geboren, besteht die unvollendete Oper aus extremen Kontrasten: Auf der einen Seite wütet die "unmotivierte Grausamkeit und Gewalt" der Titelheldin. Auf der anderen Seite wühlt uns "die menschliche Zerbrechlichkeit und die Bereitschaft auf, sich für den Geliebten zu opfern".

Beklemmend und betroffen

Durchaus aufgewühlt wirkte dann auch das römische Premierenpublikum im gelb-blau angestrahlten Teatro dell’Opera. Der Applaus war nicht so tosend, wie er zwölf Stunden zuvor im Parlament gewesen war – aber das lag nicht an der mangelnden Qualität des Dargebotenen. Im Gegenteil: Die Inszenierung Ai Weiweis war so eindringlich und beklemmend aktuell, dass sich eine begeisterte Ovation, die durchaus gerechtfertigt gewesen wäre, ganz einfach verbot.

"Ich werde dir folgen, um mich zu dir zu setzen in dieser Nacht, die keinen Morgen kennt", trauert in der Schlussszene der alte Tatarenkönig Timur, der im Krieg alles und zuletzt auch seine treue Liù verloren hat. Mit dieser Trauer und dem Weltschmerz Timurs verließen wohl auch die meisten Zuschauer das Opernhaus. Sie hatten auch erlebt, dass Oksana Lyniv am Ende mit einer Schärpe in den ukrainischen Nationalfarben auf die Bühne gekommen war. (Dominik Straub aus Rom, 24.3.2022)