Marie Yovanovitch bei einer Veranstaltung im Gedenken an im Konflikt mit Moskau getötete Ukrainer Mitte Februar.

Foto: EPA / Jim Lo Scalzo

Die Ukrainerinnen und Ukrainer hatten Wolodymyr Selenskyj gerade zu ihrem Präsidenten gewählt, da musste Marie Yovanovitch ihren Schreibtisch in Kiew räumen. Mit Selenskyj hatte das nichts zu tun, umso mehr mit den Intrigen Rudy Giulianis, des früheren New Yorker Bürgermeisters, der im Terrorinferno des 11. September 2001 Größe und Nervenstärke bewies, nur um später, als Anwalt und Adlatus Donald Trumps, auf den Tiefpunkt seiner Karriere zuzusteuern.

Giuliani bediente sich seines ukrainischen Kontaktnetzwerks, weil er Munition für die Schlammschlacht eines eventuellen Wahlduells zwischen Trump und dem Demokraten Joe Biden sammeln wollte. In der Trump’schen Karikatur sollte Biden, dessen Sohn Hunter im Aufsichtsrat des ukrainischen Energiekonzerns Burisma saß, als Pate eines im Sumpf der Korruption versinkenden Familienclans gezeichnet werden. Einem, den Giuliani dafür einspannte, einem tatsächlich korrupten Ex-Generalstaatsanwalt namens Wiktor Schokin, hatte Yovanovitch das Visum verweigert, sodass er nicht nach New York reisen konnte. Ohne dass sie es damals auch nur geahnt hätte, wurde es ihr zum Verhängnis.

Giuliani drängte bei Trump auf die Abberufung der Botschafterin, was am 24. April 2019, drei Tage nach Wolodymyr Selenskyjs glasklarem Stichwahlsieg, auf überaus abrupte Weise geschah. An dem Tag war Yovanovitch Gastgeberin einer Veranstaltung zu Ehren einer Menschenrechtsaktivistin, die Licht ins Dunkel der Vetternwirtschaft zu bringen versucht und dafür mit ihrem Leben bezahlt hatte. Zwei Männer hatten Kateryna Handziuk in der Stadt Cherson mit Schwefelsäure attackiert, sie war einen qualvollen Tod gestorben.

Blick hinter die Kulissen

Während Yovanovitch an die mutige Frau erinnerte, kam aus dem Außenministerium in Washington die Order, sie möge die Koffer packen. Unverzüglich. "Das State Department, gut 30 Jahre lang mein Zuhause, hat mich in die Wüste geschickt", schreibt Yovanovitch in ihren Memoiren, die zufällig genau zu dem Zeitpunkt erscheinen, in dem Wladimir Putins Krieg die Ukraine verwüstet.

Lessons from the Edge: Der Titel ließe sich wörtlich mit "Lektionen vom Rand" übersetzen. Gemeint sind die nach ihren Worten surrealen Erfahrungen, die eine amerikanische Diplomatin macht, wenn sie beruflich am Abgrund steht, weil sie in den Augen eines Präsidenten, dem der persönliche Vorteil über alles geht, zum Störfaktor wird. Aktuell ist das Buch schon deshalb, weil Yovanovitch das Verhältnis Trumps zu Putin beleuchtet, weil sie episodenhaft schildert, was hinter den Kulissen geschah.

Die Unterwürfigkeit, mit der der US-Amerikaner seinem russischen Widerpart begegnete, so die Autorin, habe im diplomatischen Korps häufig Anlass zur Sorge gegeben. In der Ukraine habe Trump ein "Verliererland" gesehen, kleiner und schwächer als Russland. "Die Krim ist russisch, weil ihre Bewohner Russisch sprechen", habe er dem damaligen ukrainischen Staatschef Petro Poroschenko im Juni 2017 im Weißen Haus entgegnet, die Annexion der Halbinsel praktisch als Fakt akzeptierend.

Zwar war es Trump, der erstmals Panzerabwehrraketen des Typs Javelin an die ukrainische Armee liefern ließ, im Gegensatz zu seinem demokratischen Vorgänger Barack Obama, der dies noch abgelehnt hatte. Entscheidend aber, schreibt Yovanovitch, sei ein geradezu serviles Verhalten gegenüber dem Mann im Kreml gewesen.

Gesteigerte Aggressivität

Bisweilen ließ sich das auch vor den Kulissen beobachten, etwa im Juli 2018 in Helsinki, wo Trump nach einem Gipfeltreffen mit dem Kreml-Chef deutlich machte, dass er eher Putin glaubte als seinen eigenen Geheimdiensten. Diese sprachen von russischer Einmischung in US-amerikanische Wahlkämpfe, Moskau bestritt die Vorwürfe. Jedenfalls glaubt die Botschafterin a. D. im Machtwechsel von Trump zu Biden einen wesentlichen Faktor für Putins nochmals gesteigerte Aggressivität zu sehen.

"Solange Trump Präsident war, hatte Putin das Gefühl, dass er vom US-Präsidenten bekam, was er brauchte", dozierte sie neulich im Radiosender NPR. Berater in Trumps Umfeld hätten prophezeit, im Falle seiner Wiederwahl würden die USA wahrscheinlich aus der Nato austreten – ganz im Sinne Russlands. Als dann aber mit Biden ein überzeugter transatlantischer Anhänger der Nato das Rennen machte, habe Putin "nach anderen Mitteln gesucht".

Zur Wahrheit gehört auch, dass man sich in den Vereinigten Staaten, einem hinreichend mit sich selbst beschäftigten Land, für die Ukraine nie sonderlich interessierte. Das änderte sich, wenn auch aus rein innenpolitischen Gründen, als die Demokraten ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump einleiteten, das erste von zweien, und Marie Yovanovitch als Zeugin aussagte. Es ging um die Methoden eines Erpressers, der ein vom Kongress gebilligtes Militärhilfepaket zurückhielt, weil er den Newcomer Selenskyj unter Druck setzen und die Ukraine zu Nachforschungen gegen Biden zwingen wollte.

Treueschwur abgelehnt

Yovanovitch, die in Kanada geborene Migrantentochter, die ihre diplomatische Laufbahn 1986 in Somalia begann und vor ihrer Entsendung nach Kiew bereits Botschafterin in Kirgisistan und Armenien gewesen war, stand für Weltkenntnis, Expertise und eine gewisse Kontinuität des Denkens in den Institutionen. Womit Donald Trump, der Expertinnen und Experten gern lächerlich machte und von Deal zu Deal dachte, wenig anzufangen wusste.

Deshalb nahm er Yovanovitch wohl auch mit besonders hämischen Tweets ins Visier. "Wo immer sie hinging, ist es schlimm geworden", stichelte er. "Angefangen hat sie in Somalia. Und, wie ist das so gelaufen?" Yovanovitch antwortete mit dem verbalen Florett. "Ich glaube nicht, dass ich so viel Macht habe. Nicht in Mogadischu, Somalia. Auch nicht an anderen Orten." Ihre Vorgesetzten im State Department, erzählt sie in ihren Memoiren, hätten ihr seinerzeit nahegelegt, eine Art schriftlichen Treueschwur abzulegen und Donald Trump damit gnädig zu stimmen, auf dass er sie auf dem Posten in Kiew belasse. Sie habe nachgedacht und abgelehnt. "Ich bin Staatsbürgerin der USA. Einem Individuum schwören wir hier nicht die Treue. Im Jahr 1776 haben wir damit aufgehört." (Frank Herrmann, 24.3.2022)