Alles andere wäre laut Gutachten eine "überholte und unhaltbare Dichotomie".

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Es waren dramatische Szenen, die sich Anfang März 2019 auf dem Flughafen Stansted in London abspielten: Beim Start einer Maschine der Laudamotion Richtung Wien explodierte eines der beiden Triebwerke. Der Pilot brach den Startvorgang ab, das Flugzeug wurde daraufhin evakuiert.

Drei Jahre später liegt der Vorfall nun beim Europäischen Gerichtshof (EuGH): Eine Frau hatte Schadenersatz verlangt, weil sie seither an psychischen Folgen leidet. In einem Gutachten, das der Generalanwalt des EuGH am Donnerstag veröffentlicht hat, spricht sich dieser nun dafür aus, ihr den Schadenersatz zuzubilligen. Eine endgültige Entscheidung ist in den nächsten Monaten zu erwarten.

Psychische Folgen nach Evakuierung

Nach der Explosion des linken Triebwerks hatten die Passagiere das Flugzeug über den Notausstieg am rechten Flügel verlassen. Die Frau wurde dabei durch den Jetblast des rechten Triebwerks, das zu diesem Zeitpunkt noch in Bewegung war, mehrere Meter durch die Luft geschleudert. Seither leidet sie an Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen und plötzlichen Weinanfällen. Die Ärzte diagnostizierten eine posttraumatische Belastungsstörung.

Die Frau machte deshalb Ansprüche auf Schadenersatz gegen Laudamotion geltend. Das Verfahren zog sich jedoch bis zum Obersten Gerichtshof (OGH). Laut dem Übereinkommen von Montreal, das Schadenersatz durch Fluglinien regelt, haben Reisende nämlich nur dann Anspruch auf Ersatz, wenn sie bei einem Unfall "körperlich verletzt" werden. Der OGH legte dem Europäischen Gerichtshof deshalb die Frage vor, ob von der Formulierung auch psychische Folgen erfasst sind.

"Überholte Dichotomie"

Aus Sicht des EuGH-Generalanwalts ist das der Fall: Der Begriff "körperlich verletzt" meint demnach auch "Beeinträchtigungen der psychischen Unversehrtheit, wenn sie durch ein ärztliches Gutachten festgestellt werden und eine medizinische Behandlung erfordern". Ereignisse wie Naturkatastrophen, Terroranschläge oder schwere Verkehrsunfälle können laut dem Gutachten "ein Trauma darstellen, das zwar psychologischer Natur, aber genauso real und verheerend ist wie die Körperverletzung selbst". Psychische Beeinträchtigungen nicht in den Begriff der Körperverletzung einzubeziehen wäre eine "überholte und unhaltbare Dichotomie".

Gutachten des Generalanwalts sind für die Richterinnen und Richter am Europäischen Gerichtshof zwar nicht bindend, in den meisten Fällen orientieren sie sich aber daran. (japf, 24.3.2022)