Wurde durch das gigantische Filmprojekt "DAU" international bekannt und lebt seit 2007 im Exil: Ilja Chrschanowski.

Foto: Foto: APA / AFP / John MacDougall

Russische Künstler und Künstlerinnen, die das Regime nicht stützen wollen, sahen sich schon seit längerem gezwungen, das Land zu verlassen. Regisseur Ilja Chrschanowski lebt seit 2007 im Exil und wähnt sich angesichts des Krieges zunehmend in einem Science-Fiction-Film. Putin sei dabei, Russland zu zerstören.

STANDARD: Sie haben bereits 2014 eine Erklärung gegen die Annexion der Krim unterschrieben, jetzt wieder im Fall des Ukraine-Krieges. Hatte das für Sie Konsequenzen?

Chrschanowski: Ich hätte mir nicht vorstellen können, es nicht zu unterzeichnen. Es ist so derart kriminell, was Putin macht. Ich habe aber die letzten 15 Jahre bereits in England, Deutschland und der Ukraine gelebt. Zuletzt am meisten in Kiew, weil ich dort Künstlerischer Leiter des Babyn-Jar-Memorials bin. Und es war offenkundig: Russland führt bereits seit Jahren einen Krieg gegen die Ukraine. Das waren nie nur kleine Kämpfe.

Port Film Co-op

STANDARD: Wie wird Putin enden?

Chrschanowski: Putin wird schrecklich enden, als eine Horrorgestalt der Menschheitsgeschichte. Der Name Putin wird immer mit den dunkelsten Seiten der menschlichen Geschichte assoziiert werden. Mit diesem Krieg hat er Russland zerstört, denn jetzt ist es aus mit der Besonderheit der russischen Kultur. Heute ist es eine Schande, Russe oder Russin zu sein. Jeder ist doch in gewisser Weise mitverantwortlich für das, was in seinem Land passiert. Es gibt auch Leute in Russland, die gegen das Regime sind, sie bezahlen dafür einen großen Preis – mit ihrer Karriere und mit Freiheitsentzug. Nach den sowjetischen Genoziden des 20. Jahrhunderts geriert sich Putin als letzter Sargnagel.

STANDARD: Es gab in den Nullerjahren eine Öffnung. Was ist dann passiert?

Chrschanowski: Michail Gorbatschow hat den großen Drachen namens UdSSR gekillt und viel Freiheit gebracht. Aber wie wir jetzt sehen, hat der Kadaver weitergelebt und ist auferstanden. Es geht in diesem riesigen Land viel Unsichtbares vor sich. Wenn Sie den Eindruck hatten, man lebe in Moskau komfortabel, dann muss ich Ihnen sagen, dass während Sie dort Matcha-Tee getrunken haben, Menschen ins Gefängnis geschmissen wurden. Bereits 2004 wurde mein erster Film "4" (Drehbuch von Wladimir Sorokin, Anm.) verboten.

STANDARD: Werden viele Russland verlassen?

Chrschanowski: Ja, Hunderttausende haben das Land in den letzten Monaten schon verlassen. Intellektuelle, junge Businessleute, viele aus der IT-Branche, Künstlerinnen und Künstler. Viele bleiben auch, weil sie ihre Eltern dort haben. Ich will es mir einfach nicht vorstellen, dass diese surreale Diktatur, die für mich aussieht wie Charlie Chaplins Der große Diktator, damit durchkommt. Diese Selbstinszenierungen Putins in den großen Hallen mit riesigen Tischen und alten finster blickenden Herren – es könnte auch ein Film von Sacha Baron Cohen sein. Aber es ist die Realität, es ist "magic russia".

STANDARD: Der russische Autor Oleg Kaschin hat den Kreml einmal als Harry Potters Hogwarts bezeichnet, einen Ort dunkler Mächte.

Chrschanowski: Unbedingt. Wir sind Zeugen eines großen Science-Fiction-Films über den Krieg zwischen Licht und Dunkelheit, Gut und Böse. Es gibt gute Wladimirs und böse Wladimirs, und über allem schwebt die Atomgefahr.

STANDARD: Haben Sie den Krieg erwartet?

Chrschanowski: In Russland kann alles passieren, es ist kein logisches Land. Ein Freund von mir sagte schon vor Monaten, dass es den Krieg geben wird. Putin ließ im Vorjahr ein Monument des Fürsten Wladimir von Kiew vor dem Kreml errichten. Dieser Wladimir hat einst Russland christianisiert. Diese Statue vor den Kreml bedeutet, dass auch die Ukraine dem Kreml gehört. Putin glaubt, er ist die Reinkarnation dieses Fürsten! Diese Logik kann man im Westen nicht verstehen, sie ist aber für Russland normal.

STANDARD: Warum funktioniert die Propaganda so gut?

Chrschanowski: Die Propaganda ist ein Spiel, zu dem auch der Westen intensiv beigetragen hat. Putin hat 2014 die Krim annektiert, und alle haben ihm weiter schön die Hand geschüttelt und Gas gekauft. Die westliche Elite ließ sich zu netten Dinners einladen und nahm Sponsorgelder von Gazprom und Co. Währenddessen lief aber die antiwestliche Propaganda schon lange. Für etwa 75 Prozent der Menschen in Russland ist viele Jahre schon, mindestens 15 Jahre, das Feindbild der Westen. Diese Menschen verlassen Russland nie, informieren sich in staatlichen Medien. Sie konsumieren Märchen, die ihnen sagen, dass der Westen eine Bedrohung ist und Russland alles unternimmt, um die Gefahr abzuwehren.

STANDARD: Könnte eine Palastrevolution stattfinden?

Chrschanowski: Es gibt dahingehend zumindest eine Tradition in Russland, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Für mich sind dieser Krieg und der Zustand des Staates auch nicht allein Putin anzulasten. Der ganze Apparat ist ein Gebilde aus altem sowjetischen Geist. Ein Ergebnis von 100 Jahren gewalttätiger Herrschaft, während der Menschen vertrieben, eingesperrt, gefoltert, getötet wurden. Durch alle Schichten hindurch. Hinzukommt, dass in diesem System alles auf dem Kopf steht. Wer noch nie mit Kultur zu tun hatte, bekommt die Leitung einer Kulturinstitution.

STANDARD: Wie geht es Ihren Freunden in Russland?

Chrschanowski: Ich weiß nicht, was genau vorgeht. Aber ich weiß, dass viele Freunde von mir, auch mein Vater (der Animationsfilmemacher Andrei Chrschanowski, Anm.) und ich, auf einer schwarzen Liste stehen.

STANDARD: Sie könnten also derzeit nicht nach Russland zurückkehren?

Chrschanowski: Nein.

STANDARD: Was erwarten Sie vom Kunstschaffen in Russland der nächsten Jahre?

Chrschanowski: Es wird ein Exodus stattfinden, und er tat es bisher schon. Kunst ist inzwischen auch so unwichtig geworden. Weltweit findet seit der Pandemie ein großer Reinigungsprozess statt; vieles muss sich nach zwei Jahren Virusherrschaft neu formieren. In Russland sehe ich aber für die Kunst der nächsten Jahre keine Perspektive. Ich hoffe höchstens auf die Generation der jetzt 15- bis 25-Jährigen, also jener mit sozialen Medien aufgewachsenen Menschen, denen der Staat jetzt Facebook und Instagram genommen hat. Das wird sie aufregen! Wenn sie ihre Insta-Storys nicht mehr posten können, beginnen sie vielleicht politisch zu werden.

STANDARD: Welche Fehler darf der Westen im Umgang mit russischen Künstlerinnen und Künstlern jetzt nicht machen?

Chrschanowski: Es ist jetzt entscheidend zu differenzieren zwischen jenen Menschen, die ihr Talent nützen, um das Putin-System aktiv zu stützen und jenen, die sich deutlich gegen den Krieg ausgesprochen haben. Letztere sind sehr wichtig, und der Westen darf sie nicht verlieren. Es ist wichtig, sie zu unterstützen. Waleri Gergijew ist definitiv Teil des Systems und will sich davon nicht lossagen. Es ist nur logisch, dass er vom westlichen Kulturbetrieb ausgeschlossen wird.

STANDARD: Was wissen Sie über Ihr Babyn-Jar-Team in Kiew und den Zustand der Gedenkstätte?

Chrschanowski: Die Frauen aus dem Team sind mit den Kindern geflüchtet. Viele Männer kämpfen oder arbeiten für humanitäre Hilfsorganisationen. Unsere Experten für forensische Architektur haben bisher Massengräber aus dem Zweiten Weltkrieg eruiert. Jetzt sind sie während des Krieges im Einsatz. Denn jetzt ist das ganze Land Babyn Jar. (Margarete Affenzeller, 25.3.2022)