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Eigentlich hat Russland im Jahr 2017 offiziell sein gesamtes Chemiewaffenarsenal vernichtet. Doch bereits zuvor wurden Stimmen über versteckte Kampfstoffe in russischen Laboren laut.

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Der Kreml hat offenbar schon mit den Zehenspitzen an die nächste Eskalationsstufe des Kriegs in der Ukraine angetippt: Die USA, der Nato-Generalsekretär und die Europäische Union warnen Russland vor dem Einsatz von Chemiewaffen. Es gebe Hinweise, dass Moskau sie einsetzen wird – unter anderem, dass Präsident Wladimir Putin der Ukraine vorwirft, selbst solche Waffen bereitzuhalten und damit bereits an einem Szenario bastelt, um den russischen Einsatz später rechtfertigen zu können.

Dabei sind sich die Fachleute einig, dass Russland im Fall des Falles auf ein breites Spektrum an Chemiewaffen zurückgreifen und diese auch binnen weniger Tage produzieren kann. Und das obwohl Moskau offiziell gar keine mehr besitzt: Denn im Oktober 2017 wurde Russland mittels Urkunde durch die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) bescheinigt, dass fast 40.000 Tonnen – und damit das gesamte gemeldete Arsenal – der verbotenen Waffen zerstört worden sei. Per Videoschaltung hatte zuvor Putin noch der allerletzten Vernichtung von Chemiewaffen in seinem Land beigewohnt und die USA lautstark gescholten, weil diese selbst die Frist immer wieder verschoben hatte, um ihre Waffen zu zerstören. 2023 sollen dann auch die USA keine chemischen Kampfstoffe mehr besitzen.

Russische Kampfstoffe

Doch bereits vor Jahren regte sich Skepsis, ob Russland der OPCW alle Chemiewaffen aus seinem Arsenal gemeldet habe. Schon 1992, als die Chemiewaffenkonvention von den Mitgliedsstaaten der Genfer Abrüstungskonferenz verabschiedet wurde, wandten sich zwei russische Chemiker an die Öffentlichkeit: Moskau forsche weiter an chemischen Kampfstoffen, unter anderem an einem tödlichen Gift, das unter dem Namen "Neuling" firmierte: Nowitschok. Seine Komponenten waren damals technisch nicht verboten, obwohl jeglicher Einsatz von Chemie als Waffe untersagt wurde. Einen Beweis für die Existenz von Nowitschok sollten britische Behörden 2018 erhalten: In einem Parfümfläschchen fanden sie das Gift, das gegen den russischen Ex-Agenten Sergej Skripal und seine Tochter eingesetzt und von den Angreifern auf der Flucht weggeworfen wurde. Zwei Jahre später versuchte der Kreml vergeblich, mit dem tödlichen Nervengift den Oppositionellen Alexej Nawalny loszuwerden.

Doch Russland wird sich laut Einschätzung der internationalen Fachleute hüten, solch komplexe und schlussendlich leicht rückverfolgbare Kampfstoffe in der Ukraine einzusetzen. Stattdessen fürchten Analysten, dass Ammoniakgas oder Chlor freigesetzt werden könnte. Chlorgas wurde bereits im Ersten Weltkrieg mit verheerender Wirkung eingesetzt und ist zwar weniger giftig als Nowitschok oder Senfgas, doch erwies es sich schon in Syrien als effektive Waffe des Präsidenten Bashar al-Assad im Häuserkampf gegen die Rebellen. Russland stand dem Machthaber als Verbündeter zur Seite und verhinderte, dass al-Assad im UN-Sicherheitsrat verurteilt wurde. Moskau stellte die OPCW-Ermittlungen zum syrischen Chlorgaseinsatz infrage und nannte die Organisation befangen.

"Falsche Flagge"

Chlorgas ist bei einer Temperatur von mehr als – 34 Grad Celsius sehr flüchtig und bildet bei Kontakt mit der Feuchtigkeit der Augen und der Atemwege stark reizende Säuren. Das kann zu Bluthusten und Zellzerstörungen führen. Weil Chlor auch für zivile Zwecke eingesetzt wird, ist es leichter, die Chemikalie legal einzulagern und im Bedarfsfall zu einer Waffe zu verarbeiten.

Was hätte Russland von einer solchen Eskalation? Für Una Jakob, Chemiewaffenexpertin bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, erschließen sich die Vorteile für Russland nicht. Denn Moskau könne seine Ziele "mit anderen, leichter verfügbaren Waffen" erreichen, sagt Jakob auf Anfrage des STANDARD. Ein Einsatz unter falscher Flagge – also der Ukraine die Schuld für Chemiewaffen unterzuschieben – könnte noch eventuell als "innenpolitisches Signal als Teil der russischen Kriegspropaganda infrage" kommen. (Bianca Blei, 25.3.2022)