Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges stiegen Lebensmittelpreise um mehr als 30 Prozent, sagt Matin Qaim, Agrarökonom an der Universität Bonn. Bisherige Maßnahmen der EU-Kommission, um Europas Getreideproduktion zu erhöhen, hält er für keinen großen Wurf.

Mehl wird heuer zu einem knappen Gut. Russland als weltgrößter Getreideexporteur hat seine Ausfuhren gestoppt. Das treibt die Preise.
Foto: Imago

STANDARD: 100 Millionen Menschen weltweit sind infolge des Krieges in der Ukraine von Hungersnot bedroht. Setzt Russlands Präsident Wladimir Putin Nahrungsmittel als Waffe ein?

Qaim: Putin lässt derzeit keine Weizenlieferungen mehr aus Russland. Schiffe mit Getreide werden an den Häfen am Auslaufen gehindert. Offenbar will er der Welt zeigen, wie abhängig sie von Russland ist. Außerdem versucht er, die Brotpreise im eigenen Land niedrig zu halten, damit die Bevölkerung weiter hinter ihm steht. Die Ukraine wird dieses Jahr vermutlich nur wenig ernten. In den Kriegswirren lassen sich die Felder nicht bestellen.

STANDARD: Wie gefährlich ist Russlands Exportstopp für den Weltmarkt?

Qaim: Russland ist der weltgrößte Getreideexporteur, zusätzlich fallen Mengen aus der Ukraine weg. Wir reden von einem Drittel aller weltweiten Weizenausfuhren. Mehr als 25 Länder in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten beziehen mehr als die Hälfte ihrer Weizenimporte allein aus diesen beiden Ländern.

STANDARD: Die Preise für Lebensmittel explodieren. Das sollte doch die Produktion weltweit ankurbeln. Warum regelt sich der Markt nicht selbst?

Qaim: Die Preise waren bereits vor dem Krieg um 50 Prozent höher als zwei Jahre zuvor, weil sich Energie und Düngemittel verteuerten. Seit Ausbruch des Krieges sind sie zusätzlich um mehr als 30 Prozent gestiegen. Sie sind jetzt so hoch wie seit 50 Jahren nicht mehr. Landwirtschaft braucht jedoch Fläche, Dünger, Wasser. Die Produktion kurzfristig deutlich hochzufahren, würde bedeuten, mehr Wald- und Naturflächen zu nutzen. Auch Düngemittel fehlen, denn die Ukraine und Russland sind dafür wichtige Exporteure. Dünger hat sich um das Drei- bis Vierfache verteuert. Damit fehlt eine wichtige Stellschraube, um Erträge zu erhöhen.

STANDARD: Warum ist die internationale Versorgung mit Lebensmitteln derart angreifbar und verletzlich?

Qaim: Die Böden der Ukraine und Russlands eignen sich besonders gut für Landwirtschaft. Auch Westeuropa, USA, Südamerika und Australien sind produktiv. Westeuropa ist aber dicht besiedelt, wir konsumieren unser Getreide selbst. Auch Indien und China brauchen dieses für ihre eigene Bevölkerung. Die Ukraine und Russland hingegen verfügen relativ zur Bevölkerung über riesige Agrarflächen.

STANDARD: Wie gerieten Länder wie der Jemen, Sudan, Nigeria, Tansania in diese massive Abhängigkeit von Importen aus Russland und der Ukraine?

Qaim: Ägypten, Libyen oder der Jemen sind aufgrund klimatischer Bedingungen auf Importe angewiesen. Getreide aus der Schwarzmeerregion zu importieren, ist für sie geografisch naheliegend. In Kenia, Tansania oder Nigeria ist Landwirtschaft hingegen nicht produktiv genug. Sie könnte es aber mit besserer Technologie, Infrastruktur, Ausbildung sein. Ein afrikanischer Kleinbauer erntet im Schnitt eine Tonne Getreide auf einem Hektar. Möglich wäre mehr als das Fünffache.

STANDARD: Könnten Getreidelager in China und Indien die Lücken füllen?

Qaim: Diese Lager dienen der eigenen Notfallversorgung. Diese Puffer anderen Regionen zur Verfügung zu stellen, ist politisch nicht einfach. Das sind nationale Entscheidungen, die nicht wir Europäer treffen können. Und selbst diese Mengen würden nur rund drei Monate überbrücken. Der viel größere Hebel, um humanitäre Katastrophen zu vermeiden, liegt darin, weniger Agrarprodukte für Nicht-Nahrungsmittel zu nutzen. Die Hälfte des weltweiten Getreides fließt ins Tierfutter. Das ist eine große Stellschraube. Eine kurzfristig noch größere ist Bioenergie.

Matin Qaim: "Es ist überraschend, dass die Politik auf dem Ohr Bioenergie bisher taub ist."
Foto: Volker Lannert

STANDARD: Halten Sie es für realistisch, den Tierbestand in Europa zu dezimieren und den Fleischkonsum um ein Fünftel zu reduzieren?

Qaim: Das ist nicht nur realistisch, sondern geboten. Aber das schaffen wir nicht innerhalb weniger Monate. Wir können Bauern kaum verbieten, ihre Tiere zu füttern. Wir können Futterrationen umstellen: mehr Grünfutter, weniger Getreide. Mehr Spielraum ergibt sich durch kleinere Tierbestände. Das geht sich aber nicht von heute auf morgen aus. Der heiße Punkt, der aus der Hungerkrise führt, ist Bioenergie zu reduzieren. Dazu gibt es politische Vorgaben, die sich temporär aussetzen ließen.

STANDARD: Teller vor Tank – auch angesichts der Energiekrise?

Qaim: Bioenergie braucht 20 Prozent der Agrarfläche, deckt aber nur fünf Prozent der Kraftstoffe im Transport ab. Die USA verarbeiten jährlich 120 Millionen Tonnen Mais zu Bioethanol. Das ist die Menge an Getreide, die jährlich aus Russland und der Ukraine kommt. Sie macht aber nur fünf Prozent des amerikanischen Sprits aus. Etwas mehr Radfahren wäre aus vielen Gründen empfehlenswert. Was Europa betrifft: Russland und die Ukraine lieferten jährlich vier Millionen Tonnen Pflanzenöl – die gleiche Menge, die wir zu Biodiesel verarbeiten.

STANDARD: Die EU-Kommission hat Fläche für Getreideanbau freigegeben, die für Umweltschutz reserviert war. Wären direkte Finanzhilfen an Schwellenländer nicht effizienter, damit sich diese Lebensmittel weiterhin leisten können?

Qaim: Es ist überraschend, dass die Politik auf dem Ohr Bioenergie bisher taub ist. Brachliegende Flächen zu reaktivieren, ist nicht der große Wurf. Es ist gut, dies ein Jahr lang zu tun. Was damit mehr produziert wird, ist aber weit weniger, als sich bei Bioenergie erreichen ließe. Was Finanzhilfe betrifft: Wird nicht über mehr Getreide Abhilfe geschaffen, sind Sozialmaßnahmen nötig. Eine davon ist das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, das dieses Jahr auf jeden Fall finanziell stärker ausgestattet gehört.

STANDARD: Hat sich auch Europa in der Nahrungsmittelproduktion zu abhängig von Russland gemacht?

Qaim: Wir bekommen vor Augen geführt, dass wichtige Flächen für die Weltversorgung wegfallen – und das vielleicht längerfristig. Wir müssen dies durch produktiven Anbau anderswo kompensieren, auch in Europa.

STANDARD: Zeigt der Ukraine-Krieg die Grenzen der Globalisierung in der Lebensmittelproduktion auf?

Qaim: Es wäre falsch, die Globalisierung zu verdammen. In Europa importieren wir viele Futtermittel, das ließe sich durch weniger Fleischkonsum deutlich reduzieren. Insgesamt werden wir im Zuge des Klimawandels aber mehr, nicht weniger Handel brauchen. Nur die Hälfte der Weltbevölkerung ist derzeit in der Lage, sich durch Produktion im Umkreis von 1000 Kilometern heraus gesund zu ernähren. Das Bevölkerungswachstum in Afrika und Teilen Asiens ist hoch – Klimawandel betrifft vor allem diese Regionen.

STANDARD: Sind Zeiten, in denen in Europa alle Lebensmittel immer überall zu jeder Zeit verfügbar sind, vorbei?

Qaim: Es wird alles verfügbar bleiben. Aber die Preise werden steigen. Wir werden etwa für Brot, Nudeln, Mehl, Öle mehr bezahlen. Leere Regale ergeben sich bei uns nur nach Hamsterkäufen, aber die sind unnötig und sollten lieber unterbleiben.

STANDARD: In der europäischen Agrarpolitik werden ökologische Ziele gerade gegen Ernährungskrisen ausgespielt. Warum warnen Sie vor mehr Biolandbau? Gerade dieser schafft mehr Unabhängigkeit von synthetischem Dünger.

Qaim: Die Ziele des Green Deals sind richtig. Ich bin Verfechter von mehr Klimaschutz. Mehr Ökolandbau ist dafür aber nicht das richtige Instrument. Er erzielt niedrigere Erträge. Das führt anderswo auf der Welt zu Ausdehnung der Agrarflächen und größerem Ausstoß von Klimagasen. Alles auf Öko umzustellen, ist zu kurz gedacht. Wir vergrößern damit globale Umweltprobleme. Wir müssen weg von Chemie bei vernünftigen Erträgen. Das braucht neue Technologien. Wir verteufeln Gentechnik zu Unrecht. (Verena Kainrath, 25.3.2022)