Ungleiches Paar: Regisseur Ulrich Seidl (links) und Schauspieler Michael Thomas arbeiteten bereits für die Filme "Import Export" (2007) sowie "Paradies Hoffnung" (2013) zusammen.
Foto: STANDARD

Egal ob im Keller oder auf Safaritour, Regisseur Ulrich Seidl blickt tief in die menschliche Seele. Sein neuer Film Rimini läuft ab 8. April in den heimischen Kinos und erzählt von dem einsamen Schlagersänger Richie Bravo, gespielt von Michael Thomas, der von seiner Vergangenheit eingeholt wird. Im Doppelinterview sprechen der Filmemacher und sein Hauptdarsteller über improvisierte Szenen, abgelegte Eitelkeit und darüber, wie sie sich kennengelernt haben. Hier geht es zur Videoversion.

STANDARD: In "Rimini" spielt der gescheiterte Schlagermusiker Richie Bravo Konzerte für gealterte Bustouristen in halbleeren Drei-Sterne-Hotels. Nach außen hin gibt er den glänzenden Schnulzensänger – eigentlich ist er aber komplett am Ende.

Seidl: Eigentlich ist er kein gescheiterter Schlagersänger, sondern ein gescheiterter Schlagerstar, er singt und beglückt die Menschen ja noch immer. Für seine doch große Fangemeinde, die extra nach Rimini fährt, ist er ein Idol. Ein singender Mann, der Sehnsüchte erfüllt – vor allem für das weibliche Publikum. Gescheitert ist er aber in seinem Leben. Immer wieder versucht er, an bessere Tage anzuschließen, was ihm aber nicht gelingt: Er ist Alkoholiker, der Spielsucht verfallen und bespaßt alte Damen, um sich ein Zubrot zu verdienen. Aber er kämpft und steht immer wieder auf. Einen Menschen mit seinen Schwächen zu zeigen ist interessanter als einen Helden ohne Makel.

STANDARD: Wie kam es zu der Idee dieser extravaganten Figur?

Seidl: Durch den Michael Thomas.

Thomas: Ich bin nicht Richie Bravo!

Seidl: Aber die Ursprungsidee bist du! Ich habe mir keine Figur ausgedacht und dann einen geeigneten Schauspieler gesucht, sondern Michael Thomas war der Ausgangspunkt, um diese Rolle zu schreiben.

STANDARD: Herr Thomas, Sie sind früher als Sänger in Musicals oder bei Galashows aufgetreten. Wie viel von Richie Bravo steckt in Ihnen?

Thomas: Ich bin singender Schauspieler, aber weder spielsüchtig noch ein Gigolo – leider. Natürlich habe ich etwas von dieser Figur in mir. Jede Rolle, die ich spiele, schöpfe ich aus meiner Persönlichkeit. Egal ob ich einen Bankbeamten, einen Kinderarzt oder einen Kindermörder spiele. Das alles steckt in mir, wir Schauspieler sind universale Wesen.

Seidl: Nicht jeder Schauspieler kann jede Rolle spielen, das ist Blödsinn.

Thomas: Können schon. Die Frage ist nur, wie gut.

Seidl: Ich gebe den Schauspielern eine geschriebene Rolle, aber es ist notwendig, dass sie ihre eigene Persönlichkeit in diese Figur hineinleben. Dadurch wird der Part viel authentischer. Es gibt kein Drehbuch für die Schauspieler, also auch keinen Text. Sie müssen dabei improvisieren und die Rolle leben.

STANDARD: "Rimini" ist zwar in einem fiktiven Setting angesiedelt, die Methode des Films hat trotzdem dokumentarische Züge. Vieles scheint spontan zu entstehen. Wie kann man sich die Arbeit am Set vorstellen?

Seidl: Dafür ist eine sehr lange Vorbereitungszeit notwendig. Zwar gibt jede Szene ein bestimmtes Ziel vor, es ist aber kein abgekartetes Spiel: Unter den Schauspielern wird nichts abgesprochen. Niemand weiß, was der oder die andere tun oder sagen wird. Durch diese Offenheit entsteht Authentizität. Dass hier dokumentarisch gedreht wurde, ist also nicht ganz richtig. Alles ist inszeniert. Dokumentarisch ist eher der Charakter, wie der Film zu den Zuschauern kommt – nämlich wahrhaftig. Er wirkt echt, weil die Menschen vor der Kamera echt sind. Das ist ein wichtiges Prinzip meiner Filme. Jeder kann sich in dieser Welt wiederfinden.

STANDARD: Es gibt explizite Nackt- und Sexszenen. Gehen Sie für Ulrich Seidl weiter als für andere Regisseure?

Thomas: Privat bin ich kein uneitler Mensch, aber für Ulrich Seidl lasse ich diese Eitelkeit fallen. In Rimini hatte ich 25 Kilo mehr und eine Wampe. Was die Sexszenen betrifft: Die Damen und ich sind keine 20 mehr. Wenn man etwas Realistisches zeigen möchte, geht man, so weit man kann.

STANDARD: Richie wird bezahlt für seine sexuellen Dienstleistungen, meist von einsamen Damen. Sex im Alter ist ein oft unsichtbares Thema im Film. Wollen Sie das sichtbar machen?

Seidl: Mir geht es darum zu zeigen, dass Sex nicht nur zwischen Menschen mit geschönten Körpern stattfindet. Wir haben da ein falsches Bild in unseren Köpfen. Wer legt denn fest, was schön ist? Unsere Welt sieht in Wahrheit anders aus, nämlich so wie wir selbst. Der Film hat keine Scheu, das zu zeigen.

Stadtkino Filmverleih

STANDARD: Verortet ist er im winterlichen Rimini. Was macht den Reiz eines verlassenen Urlaubsortes aus?

Seidl: Gegenfrage: Was macht den Reiz eines bevölkerten Urlaubsortes im Sommer aus, wenn sich zehntausend Touristen an den Stränden tummeln? Die andere Seite, nämlich der Winter mit seiner Tristesse, birgt eine besondere Schönheit. Wenn an der Adria der Nebel hängt, die Strände leer, die Badehütten und Hotels geschlossen sind, hat das etwas Sentimentales. In der Stimmung denkt man mehr über das Leben nach, als wenn man in der Sonne liegt.

STANDARD: Sie haben schon bei den Filmen "Import Export" und "ParadiesHoffnung" zusammengearbeitet. Trotzdem wirken Sie wie ein ungleiches Paar – wie haben Sie zueinandergefunden?

Seidl: Vor vielen Jahren stand der Michael eines Tages in meinem Produktionsbüro und hat darauf bestanden, für den Film Import Export gecastet zu werden. Das habe ich gemacht und war sehr angetan. Zuerst gab es keine Rolle für ihn, die haben wir dann extra geschaffen – eine Bereicherung!

Thomas: Ich nahm eigentlich schon bei dem Casting für Hundstage teil, wurde aber nicht genommen. Später hat mir der Ulrich gesagt, dass er mich besetzt hätte, wenn ich im Dialekt gesprochen hätte. Aber ich bin mit meinem Hochdeutsch aufgetreten, um etwas zu beweisen. Und dann hob i Dialekt glernt.

STANDARD: Der Film steckt voller Österreich-Stereotype: Adria-Urlaub, unmäßiger Alkoholkonsum, Schlagermusik, unterschwelliger Rassismus. Was interessiert Sie daran?

Seidl: Die Abgründe eines Menschen, die ins uns allen stecken. Richie Bravo verkörpert einen Mann, der sein Leben nicht auf die Reihe bringt. Auf der anderen Seite beglückt er Menschen mit seinem Gesang. Was er singt, meint er ehrlich. Die Schlagermusik befriedigt Sehnsüchte, auch wenn nur für ein paar Stunden.

STANDARD: Für den Film wurden extra Lieder von Fritz Ostermayer und Herwig Zamernik komponiert. Sie handeln von Amore und Dolce Vita. Haben Sie die Inhalte geglaubt?

Thomas: Ich habe absolut daran geglaubt. Sie erzählen ja auch von meinen eigenen Sehnsüchten. Was gibt es Größeres als die Liebe?

STANDARD: Alle Figuren leiden unter Einsamkeit und sind auf der Suche nach Zuneigung, Sex oder Liebe. Der Film wirkt ungewohnt versöhnlich und milder als Ihre bisherigen. Werden Sie als Filmemacher braver?

Seidl: Das will ich nicht hoffen. Wenn Sie auf eine Altersmilde anspielen, muss ich mich wehren. Meine früheren Arbeiten hatten eine ähnliche Sicht auf die Figuren. Ich finde Rimini gar nicht mild, aber der Film hat seine Figuren gerne. Es ist wichtig, dass die Zuschauer den Richie Bravo ins Herz schließen können. (Katharina Rustler, 27.3.2022)