Wie viele Keime zukünftiger Konflikte werden gesät, fragt der Schriftsteller Franzobel im Gastkommentar. Die Menschheit sei schon weiter gewesen.

Zu Kriegsbeginn war ich überzeugt, es wäre klüger, die Ukraine würde kapitulieren, eine Exilregierung bilden, die Bevölkerung zu friedlichem Widerstand aufrufen und mittels internationaler Sanktionen versuchen, Russland zu stoppen. Ich bin es immer noch.

Daran ändert auch der heroische Mut der Ukrainer nichts. Wenn unbewaffnete Zivilisten todesverachtend auf Soldaten zugehen und etwas wie "Schleichts eich, es Heisln" skandieren, ist das mehr als respektabel – Cojones aus Stahl. Greise mit Sturmgewehren, junge Bloggerinnen, Feuerwehrleute, Sanitäter … lauter Helden. Auch die Klitschkos könnten sich bequem in der Karibik suhlen, riskieren aber für ihr Land das Leben. Und dann dieser agile Präsident, der unbeeindruckt von Killerkommandos und Präzisionsraketen seinem Volk Mut zuspricht, ein Medienstar in der Rolle seines Lebens. Was es aber über das Wesen der Demokratie sagt, dass der Schauspieler Wolodymyr Selenskyj seine Rolle als Präsident bereits in einer Fernsehserie gespielt hat, sei dahingestellt.

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Präsident Selenskyj spricht seinem Volk Mut zu.
Foto: Reuters / Umit Bektas

Kriegshelden! Doch wofür? Zehntausende Tote, eine zerstörte Infrastruktur, Millionen traumatisierte Menschen, eine komplette Eskalation. Die Ukraine sagt, man kämpfe für die Freiheit Europas, der ganzen zivilisierten Welt, damit sich das neostalinistische Putistan nicht über alles stülpe. Mag sein, aber je länger dieser Krieg dauert, desto mehr schaukelt sich die Aggression hoch. Jedes einzelne Opfer führt zu Rachegelüsten, was die Spirale der Gewalt nur weiterdreht.

Je mehr Waffen der Westen liefert, desto länger dauert das Gemetzel. Schon jetzt erinnert die Situation fatal an die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, das Urtrauma des vorigen Jahrhunderts. Damals sind die Kriegsbegeisterten, darunter auch erstaunlich viele Künstler, jubelnd in den Krieg gezogen, den sie für einen abenteuerlichen Quickie hielten. Wenn überhaupt, kehrten sie mit zerschossenen Gesichtern, Schrapnellsplittern in den Schenkeln und zerfetzten Psychen zurück.

Unsagbares Leid

Gegenwärtig sind es testosteronschäumende Söldner, die ihre Kriegsfantasien ausleben wollen. Paintballerprobte Köche, Banker, Familienväter, aber auch die bärtigen Ferdln des grimmig dreinschauenden Tschetschenen-Waldschrats sollen bereits eingetroffen sein, ausgebildete Halsabschneider aus Nahost, wagnerianische Privatarmeen. Gut, mag man denken, sollen sich diese Reserve-Rambos gegenseitig das Restgehirn wegpusten, was aber unsagbar traurig macht, ist das verursachte Leid, all die ausgebrannten Häuser und Gesichter – missbraucht von einer Aufrüstungsrhetorik, die einem nun allerorts entgegenballert. Überall wandert jetzt Geld von Bildung, Wissenschaft, Sozialem in Richtung höherer Militäretats.

"Als hätte es eine Friedensbewegung, Antikriegsfilme und die Einsicht, dass Krieg der Vater aller Undinge ist, nie gegeben."

Dass die Reden Selenskyjs martialischer werden, ist verständlich. Wenn er aber mit Vergeltung droht und indirekt zu standesgerichtlicher Selbstjustiz aufruft, muss man schon fragen dürfen, welche Werte hier eigentlich verteidigt werden. Plötzlich geht es um strategische Stellungen, Geheimdienstbreviers und Waffen. Noch vor einem Monat hätte ich Iskander und Kinschal für Kebab-Varianten oder Bekleidungsaccessoires gehalten, nun ist von Verlusten, Versorgung und Nachschub die Rede, als hätte es eine Friedensbewegung, Antikriegsfilme und die Einsicht, dass Krieg der Vater aller Undinge ist, nie gegeben.

Mariupol am Asowschen Meer zählt zu den am stärksten umkämpften ukrainischen Städten.
Foto: Imago Images / Maximilian Clarke

Jeder Mensch, der hier stirbt, ist einer zu viel, ganz egal, ob er im Schutzraum oder Panzer sitzt und gegrillt wird wie in einem Phalerischen Stier. Jedes traumatisierte Kind ist eines zu viel.

Aber, mögen welche einwenden, soll sich die Ukraine denn von diesem narzisstisch gekränkten Schwellschädel kollektiv in den Gulag verfrachten lassen? Hat nicht schon Stalin die Möglichkeit eines Genozids an der eigenen Bevölkerung gezeigt? Ist nicht klar, wer die Guten, wer die Bösen sind? Und was wäre die Alternative? Ein Austauschen der Straßenschilder wie seinerzeit in Prag? Passiver Widerstand? Hackerangriffe?

Scheinheilige Sanktionen

Wirtschaftssanktionen! Diese Embargos zeigen Wirkung. Sie sind aber halbherzig und scheinheilig. Der Verzicht auf Markenturnschuhe und Hamburger wird Russland nicht zum Umdenken zwingen, auch nicht das Beschlagnahmen schwimmender Schlösser, solange wir Milliarden für Rohstoffe überweisen. Bei einem konsequenten Wirtschaftsboykott stünde Russland bald so putinnackert wie Nordkorea da. Aber will der Westen das? Nein, weil manche an dem Krieg verdienen, alle um die Wirtschaft fürchten und viele ratlos sind. Lieber riskiert man die Ausweitung des Stellvertreterkrieges zu einem Weltdesaster.

Der Mensch ist unbelehrbar und glaubt eine Katastrophe nicht einmal dann, wenn er sie selbst herbeigeführt hat. Wir sind wie Eltern, die zusehen, wie der kleinere Bruder dem aggressiveren größeren die Nase blutig schlägt, aber auch nicht eingreifen, wenn sich dieser unbarmherzig rächt. Am Ende wird das Zimmer, vielleicht das ganze Haus verwüstet sein. Wir werden in Scherben stehen und es nicht verstehen.

Ob es eine gewaltfreie Lösung (mit Sanktionen) gibt, weiß ich nicht. Vielleicht würde die Ukraine kurzfristig von den Landkarten verschwinden. Aber was passiert jetzt? Wie viele Keime zukünftiger Konflikte werden gesät? Die Menschheit war schon weiter, hat für Abrüstung und Frieden gekämpft. Momentan wird auf eine überwunden geglaubte Der-Stärkere-hat-immer-Recht-Schwanzvergleich-Logik zurückgegriffen, mit der, wie die Geschichte oft genug bewiesen hat, außer Schmerz und Leid nichts zu gewinnen ist, was ziemlich deprimierend ist. Darum meine ich, besser feig als tot. (Franzobel, 27.3.2022)