Es weht ein eisiger Wind über Polen, als US-Präsident Joe Biden am Samstagabend in der Hauptstadt ans Rednerpult tritt. Nicht nur buchstäblich im Innenhof des Warschauer Königsschlosses, wo die Temperatur auf acht Grad gefallen ist und sich einige Zuhörer in Decken hüllen, sondern auch sinnbildlich rund 300 Kilometer südöstlich an der Grenze zur Ukraine. Auf der anderen Seite, in der Stadt Lwiw (Lemberg), haben russische Bomben gerade ein Treibstofflager in die Luft gejagt.

Das Zitat, mit dem Biden seine Rede einleitet, erhält so ungeplant eine düstere Untermalung: "Fürchtet euch nicht!" – mit diesen Bibelworten habe der polnische Papst Johannes Paul II. seinen Landsleuten in den 1980er-Jahren den Rücken gestärkt, sagt Biden. Die immer wieder blutig niedergeschlagenen Freiheitsaufstände hätten am Ende zum Fall der Berliner Mauer und des kommunistischen Ostblocks geführt. Einen großen Anteil daran hätten Polens Friedens- und Gewerkschaftsbewegung Solidarność und ihr Chef gehabt – "Lech Wałęsa sei Dank!", wie Biden sagt.

US-Präsident Joe Biden hielt zum Abschluss seiner Europa-Reise im Zeichen des Ukraine-Kriegs in Warschau eine vielbeachtete Rede.
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Der "Kampf um die Freiheit" sei nun zurück: Es handle sich beim Krieg in der Ukraine um die "Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird", ordnet der Präsident die Ereignisse der vergangenen vier Wochen ein und macht deutlich, dass der Horror nicht bald und nicht von allein verschwinden werde: Diese Schlacht werde nicht in Tagen oder Monaten geschlagen sein. In Richtung der Ukraine sagt Biden: "Wir stehen euch bei."

Mit brechender Stimme schildert er auch seine Begegnung mit ukrainischen Flüchtlingen und verspricht die Aufnahme von 100.000 Hilfesuchenden in den USA. Die europäischen Länder drängt er nachdrücklich, ihre Abhängigkeit von russischem Öl abzubauen. Den Nato-Partnern in Osteuropa verspricht er wiederum die Verteidigung ihres Territoriums. Diese Worte gelten insbesondere dem Gastgeberland: Wiederholte US-Kritik am andauernden Demokratieabbau in Polen hatte zuletzt in der Bevölkerung die Befürchtung ausgelöst, die USA könnten dem Land nicht zu Hilfe kommen, wenn es angegriffen werden sollte – trotz Nato-Beistandspakts.

Nato-Auftrag für Biden defensiv

Eindrucksvoll wendet sich Biden auch direkt an die russische Bevölkerung: "Die amerikanischen Soldaten sind nicht in Europa, um sich in dem Konflikt zu engagieren, sondern um unsere Bevölkerung zu verteidigen." Er versichert: "Ihr, das russische Volk, seid nicht unser Feind!" Der Präsident Wladimir Putin sei allein für die Zerstörung vieler Städte und die Tötung tausender Unschuldiger verantwortlich. Die Nato-Erweiterung, macht Biden klar, habe nicht dazu gedient, Russland anzugreifen, wie Putin immer wieder behaupte. Es sei vielmehr Putin, der mehrfach versichert habe, die Ukraine nicht überfallen zu wollen, und es dann doch getan habe. Aber: "Die Macht der vielen ist größer als die Macht eines Diktators!"

Die gesamte Rede Bidens.
Sky News

Die Rede, die Biden sehr symbolträchtig im von Nazideutschland zerstörten und später wiederaufgebauten Königsschloss hält, war von seinen Beratern vorab als bedeutungsvoller Abschluss seiner dreitägigen Europa-Reise angepriesen worden. Und tatsächlich dürfte sie als bisher wohl bemerkenswerteste Ansprache seiner Amtszeit in die Geschichte eingehen: Biden, der sich aufgrund seiner Sprechstörung (Stottern) öfter verhaspelt und über komplizierte Formulierungen stolpert, hat sich 26 Minuten lang im Griff. Bis auf den allerletzten Satz, der noch viel Ärger verursachen könnte.

Anstatt den Schlusspunkt nach Papst Johannes Paul II. zu setzen, den er erneut in seinem Schlussplädoyer mit "Gebt die Hoffnung nicht auf. Fürchtet euch nicht" zitiert, donnert Biden ins Mikrofon: "Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben!"

Die Zuhörer in Warschau applaudieren kräftig. Doch bei vielen Beobachtern im Rest Europas und in den USA schrillen die Alarmglocken. Eigentlich kann man den Satz kaum anders denn als einen Aufruf zum Sturz des russischen Präsidenten verstehen. Das ist bisher nicht die offizielle Linie Washingtons und schon gar nicht die der Nato.

Weißes Haus rudert zurück

Bidens Berater reagierten umgehend nervös. Allem Anschein nach stand der Satz so nicht im Manuskript. Ausgerechnet Biden, der außenpolitisch wahrscheinlich erfahrenste US-Präsident seit Jahrzehnten, hatte sich zu einer unbedachten Äußerung hinreißen lassen. Nur wenige Minuten später streute das Weiße Haus eine Erklärung, der zufolge Biden gemeint habe, "dass Putin nicht weiter die Macht über seine Nachbarn und die Region ausüben darf". Der Präsident habe "nicht Putins Macht in Russland diskutiert". US-Außenminister Antony Blinken bekräftigte am Sonntag bei einem Besuch in Jerusalem: "Wir verfolgen keine Strategie eines Regimewechsels in Russland oder irgendwo anders."

Den Wert seiner Europa-Reise schmälert Bidens Fauxpas zwar nicht. Aber er hinterlässt Irritationen und Angriffspunkte. Der Kreml reagierte noch am Samstagabend empört: Über die Führung in Russland "entscheidet nicht Biden, der Präsident Russlands wird vom russischen Volk gewählt".

Und wie kamen Bidens Aussagen bei den US-Verbündeten an? Einen ersten Eindruck vermittelte am Sonntag Frankreichs wahlkämpfender Präsident Emmanuel Macron. Er werde die Wortwahl Bidens keinesfalls übernehmen, sagte Macron in einem Fernsehinterview. Er ziehe es vor, den Dialog mit Putin fortzuführen. Ziel sei schließlich, diesen Krieg zu beenden, ohne in den Krieg zu ziehen. Dafür müsse man von Eskalationen, "sowohl bei Taten als auch bei Worten", absehen. (Karl Doemens aus Washington, Gabriele Lesser aus Warschau, Flora Mory, 27.3.2022)