Betroffenheit über die Not in Mariupol lässt Ankara, Athen und Paris näher aneinanderrücken.

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Die nächsten Gespräche zwischen der Ukraine und Russland werden nach aktuellen Angaben aus Kiew ab Montag in der Türkei stattfinden. Die von Präsident Tayyip Erdoğan kürzlich angekündigte Verhandlungsinitiative hat damit wohl Früchte getragen.

Erdoğan war zuletzt von Kiew und Moskau zurechtgewiesen worden: Von Einigungen bei einigen großen Streitfragen könne keine Rede sein. Der türkische Präsident hatte dies am Freitag verkündet und es gar als möglich bezeichnet, dass es in den besetzten Gebieten der Ostukraine nach einer Feuerpause zu einem Referendum kommen könnte – was Kiew ausschließt.

Paris, Athen und Ankara wollen Zivilisten aus Mariupol holen

Erdoğan zeigt sich an mehreren Fronten bemüht: Die Türkei engagiert sich auch mit Frankreich und Griechenland dafür, Zivilisten aus dem umkämpften Mariupol herauszuholen. Dabei war die Zusammenarbeit dieser drei Staaten bis vor kurzem noch undenkbar: Frankreich galt im erbitterten Streit zwischen Ankara und Athen um Ölreserven im Mittelmeer als wichtiger Unterstützer der Griechen.

Griechenland drängt seit Wochen auf mehr Hilfe für Mariupol. Das hat auch historische Gründe. Im 18. Jahrhundert tauften die dort angesiedelten Hellenen ihre neue Heimat Marienstadt – eben Mariupol. Athen beziffert heute die griechische Minderheit in der Region mit 150.000 Menschen. Außenminister Nikos Dendias will selbst nach Mariupol reisen, um humanitäre Hilfe zu leisten – dafür braucht es aber wohl eine Feuerpause. Der griechische Konsul Mariupols war der letzte Diplomat, der aus der Stadt flüchtete, und er nannte sie das heutige Guernica, Grosny, Aleppo, Leningrad.

Der Krieg hat auch in der Türkei vieles verändert: So relativiert sich der Streit mit Athen angesichts des neuen "Wir-Gefühls" der Nato. Befriedigt stellte Erdoğan fest, dass der Nato die Bedeutung der Türkei klar geworden sei. Aber auch Ankara will wieder unzweideutig dazugehören: Die Nato sei der Garant für Sicherheit in Europa. "Wir werden an unserer Bündnistreue keinen Zweifel aufkommen lassen". Die hatte es lange gegeben, etwa als Erdoğan 2017 Moskau das Raketenabwehrsystem S-400 abkaufte. Zeitweilig redete er öfter mit Präsident Wladmir Putin als mit Nato-Kollegen. Mit Macron focht er gar einen verbissenen Disput samt Beleidigungen aus. Das ist jetzt wohl vorbei: Erdoğan traf Macron in Brüssel bilateral, beide haben noch den Direktdraht zu Putin statt wie die USA von ihm als "Schlächter" zu reden.

Erdoğan bleibt Putin nahe

Ankara will einen totalen Bruch mit Moskau vermeiden. Der in US-Medien kolportierte Vorschlag, die Türkei solle ihre russischen S-400-Systeme Kiew geben, stieß auf Empörung. Dafür gibt es zunächst wirtschaftliche Gründe: Russland liefert rund 50 Prozent des türkschen Öl- und Gasbedarfs und ist der wichtigste Markt für Agrarprodukte. Antalya und die Riviera sind beliebte Ferienorte für Russen. Bleiben diese auch in diesem Sommer zu Hause, werden die Einnahmen aus dem Tourismus nach den Pandemie-Jahren erneut wieder weit hinter den Erwartungen zurückbleiben.

Auch in Nordsyrien braucht Erdoğan die Kooperation mit Moskau: Denn sollte Putin dem syrischen Diktator Baschar al-Assad grünes Licht für einen Angriff auf die letzte Rebellenprovinz Idlib geben, droht der Türkei eine neue Flüchtlingswelle aus Syrien. Und es gibt auch historische Gründe für die Nähe: Über mehrere Jahrhunderte gab es zwischen dem aufstrebenden Zarenreich und dem Osmanischen Reich etliche Kriege, die für die Osmanen zumeist schmerzlich endeten. Die Erinnerung daran ist tief im kollektiven Gedächtnis verankert.

Kiew macht der Türkei kaum Vorwürfe: Denn diese liefert der Ukraine schon seit Jahren Waffen. Die Kampfdrohnen aus der Türkei haben im Krieg gegen den russischen Aggressor gar Kultstatus erlangt. Seit Samstag ist die Türkei zudem das erste vom Krieg betroffene Nato-Land: Zwei mutmaßlich ukrainische Seeminen wurden durch starken Wind in den Bosporus getrieben. Die wichtige Wasserstraße zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer musste zeitweilig gesperrt werden, bis türkische Marinetaucher die Minen unschädlich machen konnten. Etliche weitere vom Sturm abgetriebene Minen sollen noch die türkische Küste bedrohen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, Robert Stadler aus Athen, Flora Mory, 27.3.2022)