In Sachen Impfpflicht waren die Entscheidungsträger beratungsresistent, sagt Barbara Prainsack.

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Wien – Nichts, was sie sage, schmälere die Bedeutung der Impfung, schickt Barbara Prainsack dem Gespräch voraus: Die Immunisierung sei wichtiger denn je, denn die aktuelle Omikron-Variante sei nicht per se milder – sondern sie habe weniger schlimme Auswirkungen, weil die Immunisierung der Bevölkerung, auch durch die Impfung, vorangeschritten sei. Dann nimmt sich die Politikwissenschafterin der Uni Wien, die dort gemeinsam mit dem Physiker und Gesundheitsexperten Thomas Beyer die vom STANDARD begleitete Ringvorlesung "Gesundheit: Gesellschaft in der Krise" organisiert hat, in Sachen Pandemie-Management kein Blatt vor den Mund.

STANDARD: Bei der Impfpflicht waren Sie von Anfang an skeptisch – und haben recht behalten. Die gewünschte Wirkung werde ausbleiben, sagten sie in einem Interview mit der "Furche" im August 2021. Wie kamen Sie damals zu dieser Einschätzung?

Barbara Prainsack: Das lag auf der Hand. In der Policy-Literatur, in der es um konkrete politische Wirkungsprozesse, Entscheidungsabläufe und Ergebnisse geht, gibt es ganz klare Aussagen dazu, wann bestimmte Politikinstrumente erfolgreich eingesetzt werden können und wann nicht. Es existieren unterschiedliche Typen von Instrumenten wie Information oder finanzielle Anreize und eben auch rechtlich bindende Regeln. Schaut man sich das systematisch an, so weiß man sofort: Wenn man eine hohe Impfquote erreichen möchte, ist von einer Impfpflicht abzuraten. In einem derart stark politisierten Kontext wie jenem der Corona-Impfung sind die Kosten einer Impfpflicht viel zu hoch.

STANDARD: Meinen Sie politische oder finanzielle Kosten?

Prainsack: Beides. Eine Impfpflicht kann Menschen, die die Impfung klar ablehnen, nicht überzeugen. In Österreich sind das recht viele, weil es eine starke Esoterikszene und eine Parlamentspartei gibt, die gegen das Impfen mobilisiert. Von den Impfgegnern sagt niemand: Jetzt muss ich mich impfen, also mach ich's halt.

Gleichzeitig verschreckt man durch die Impfpflicht aber auch Leute in der Mitte, die sich Sorgen machen, etwa dass sie durch die Impfung unfruchtbar werden könnten – was nicht stimmt, aber die sagen sich dann: Wenn ich mich impfen muss, dann mach ich's nicht, denn dann ist wohl etwas falsch mit der Impfung. Dann haben die Impfgegner recht.

Und eine Impfpflicht verärgert dann auch noch viele jener Menschen, die für die Impfung eintreten. Die verlieren das Vertrauen in die Politik, wenn wochenlang über eine Impfpflicht diskutiert wird, die ohnehin nicht oder nur mit extremen Kosten umsetzbar wäre. Die sagen sich zum Beispiel: Stattdessen sollte man über die wirklich wichtigen Probleme reden: Wie schützt man die Schattenfamilien, vulnerable Menschen, wie unterstützt man Kinder, Eltern, die vom digitalen Lernen und Homeschooling zermürbt sind? Wie hilft man Menschen, die soziale, psychologische und finanzielle Unterstützung brauchen?

Zu diesen politischen Kosten kommen massive finanziellen Kosten, die die Durchsetzung der Pflicht mit sich bringen würde. Gegen Strafen nämlich würden sehr viele Menschen berufen, denn das ist kein Organstrafmandat wegen Falschparkens, sondern das Sanktionieren einer hochpolitisierten persönlichen Entscheidung.

STANDARD: Frustriert man mit einer Impfpflicht also im Grunde die gesamte Bevölkerung?

Prainsack: Ja, und das habe ich auch allen politischen Entscheidungsträgern gesagt, die mir zugehört haben. Effekt hatte es keinen.

STANDARD: Was rieten Sie stattdessen?

Prainsack: Der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka und ich plädierten vor Monaten für eine Beratungspflicht. Als Reaktion habe ich damals oft gehört: Es gibt ja eh so viele Informationen im Internet. Aber Informationen auf einer Website sind nicht dasselbe, wie wenn man sich mit einem Impfarzt hinsetzt, der einem auch die Fragen beantwortet, die die persönliche Sicherheit betreffen. Oder Fragen, die man vielleicht im Freundes- oder Familienkreis nicht stellen möchte.

STANDARD: Was macht den Unterschied? Das persönliche Gespräch?

Prainsack: Ja, im Fall einer Beratungspflicht hätte sich jemand mit zum Beispiel Herzproblemen, der fürchtet, durch die Impfung eine Herzmuskelentzündung zu bekommen, mit einer Spezialistin auseinandersetzen müssen. So aber blieben viele Fragen offen und sind es bis heute. Vielen Menschen in Österreich ist etwa nach wie vor nicht klar, dass die eigene Corona-Impfung auch andere schützt. Sie glauben, die Impfung sei ihre höchstpersönliche Entscheidung, Schluss, aus.

STANDARD: Wie muss Impfinformation aufbereitet sein, damit sie bei den Menschen ankommt? Muss man die Zusammenhänge vereinfachend darstellen oder aber offen kommunizieren, dass die Sache nicht so einfach ist?

Prainsack: Leicht ist das nicht, aber es gibt Experten für Gesundheitskommunikation dafür. Sie sind darauf spezialisiert, hochkomplexe Zusammenhänge wie individuelle Krebstherapien oder auch genetisches Testen – wenn eine Erkrankung in der Familie ist – anschaulich zu machen. Sie verfügen über Methoden, die auch in Sachen Coronavirus-Pandemie hilfreich wären. Zudem gibt es auch speziell für die Kommunikation der Corona-Impfung Hilfestellung und Empfehlungen von unterschiedlichen Organisationen.

STANDARD: Was kann man sich darunter konkret vorstellen?

Prainsack: Kennen Sie das Emmentaler-Modell mit den nebeneinanderliegenden Schichten, die gegen das Coronavirus schützen? Eine Schicht davon ist die Impfung. Also hätte man sagen können: Die Impfung ist in diesem Modell nicht die einzige, aber die wichtigste Scheibe. Sie schützt viele Menschen vor schweren Verläufen und manche vor der Infektion. Wir wissen nicht, ob sie genau Sie schützt. Aber für alle Menschen überwiegen die Risiken der Infektion die Risiken der Impfung. Und je mehr Menschen geimpft sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch Sie geschützt sind, weil damit die Verbreitung des Virus reduziert wird. Bei diesem Käsescheibenmodell hätte man bleiben können, um robuste Bilder zu schaffen, die man erweitern oder ändern kann.

Aber hat sich die Regierung um solche Bilder bemüht? Nein. Hat sie auf Gesundheitskommunikationsexpertinnen gehört? Weitgehend nicht. Stattdessen hat Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz Ankündigungen und Versprechungen gemacht. Das hat viel ruiniert.

STANDARD: Der pandemische Blindflug hält bis heute an. Anfang März wurde alles aufgemacht, dann stiegen die Infektionsfälle bedrohlich an – jetzt gilt seit vergangenem Donnerstag wieder Indoor-FFP2-Masken-Pflicht, dafür wurden die Absonderungsregeln gemildert. Was ist Ihre Erklärung für dieses Management by Chaos?

Prainsack: Es hängt damit zusammen, dass diese Regierung den organisierten Wirtschaftsinteressen und den Bundesländern mehr Gehör schenkt als den Bedürfnissen der vulnerablen und älteren Menschen sowie der Kinder; also jener Menschen, die nicht so gut organisiert sind. Hinzu kommt, dass nur sehr punktuell auf Expertinnen und Experten gehört wird. Ihrem Rat folgt man nur, wenn es passt. Das ist nicht nur in Österreich so, aber das macht es nicht besser.

STANDARD: Auch die Impfpflicht wurde vor kurzem auf Eis gelegt, mit der vagen Hoffnung, sie in Hinblick auf eine wahrscheinliche neuerliche Corona-Welle im Herbst wieder aufzutauen. Kann das etwas bringen?

Prainsack: Nein, denn die Impfpflicht bleibt ein völlig ungeeignetes Politikinstrument. Umso mehr wir jetzt über sie weiterreden, umso größer wird der Schaden, denn an den geschilderten Negativwirkungen hat sich nichts geändert.

STANDARD: Wozu raten Sie dann? Die Impfpflicht wieder abzuschaffen, so wie sie beschlossen wurde?

Prainsack: Ja. Wir müssen die Impfpflicht jetzt begraben – und uns stattdessen bemühen, Menschen gesund zu erhalten oder gesund werden zu lassen. Den Schutz von Schattenfamilien und anderen Menschen, für die eine Infektion lebensgefährlich sein könnte, habe ich schon erwähnt. Auch für Menschen mit Long Covid braucht es bessere Unterstützung. Das Geld, das man zur Umsetzung der Impfpflicht bräuchte, sollte zuallererst in Angebote für jene Leuten fließen, die dringend soziale und psychologische Hilfe brauchen. Und man sollte Geld in die Hand nehmen für eine wirklich gute Informationskampagne in Vorbereitung auf den Herbst. Unter Umständen mit einer Beratungspflicht. Auch die würde nicht alle zum Impfen bringen, aber es wäre auf jeden Fall ein besserer Weg als ein Aufwärmen der Impfpflicht. (Irene Brickner, 29.3.2022)