Ellen Heinrichs ist Gründerin und Geschäftsführerin des Bonn Institute für Journalismus und konstruktiven Dialog.

Foto: Florian Görner

Wien/Bonn – Leserinnen und Leser würden sich länger mit Medieninhalten beschäftigen, wenn Journalismus nicht nur auf Probleme schaue, sondern auch Lösungen thematisiere, sagt Ellen Heinrichs. Medien müssten in ihrer Berichterstattung mehr Perspektiven widerspiegeln: "Die Mehrheit der Menschen hat unklare Meinungen." Heinrichs, zuvor Journalistin bei der Deutschen Welle, ist Gründerin und Geschäftsführerin des Bonn Institute für Journalismus und konstruktiven Dialog. Als Gesellschafter der gemeinnützigen Organisation sind der deutsche Privatsender RTL, die Deutsche Welle, die Rheinische Post Mediengruppe und das dänische Constructive Institute an Bord.

STANDARD: Sie wollen mit dem Institut eine Debatte über die Zukunft des Journalismus führen. Wohin soll die Reise gehen?

Heinrichs: Bislang war die Diskussion über die Digitalisierung in der Medienbranche sehr stark geprägt von technologischen Herausforderungen, die es zu meistern gilt – von neuen Plattformen, von neuen Prozessen. Aber was sind denn die werthaltigen Inhalte, die wir für die Nutzerinnen und Nutzer zur Verfügung stellen und für die sie auch in Zukunft noch bereit sind, Geld auszugeben? Sei es Rundfunkbeiträge oder eben Abogebühren. Und nach unserem Dafürhalten wäre es sinnvoll, wenn der Journalismus konstruktiv würde, also lösungsorientierter, perspektivenreicher und auch proaktiver, wenn es darum geht, konstruktive Debatten anzuregen und zu moderieren.

STANDARD: Wollen das die Medienkonsumentinnen hören, sehen oder lesen?

Heinrichs: Ja, das zeigt sich anhand der Analyse von Nutzungsverhalten und Informationsbedürfnissen der Menschen. Da gibt es sehr viele Untersuchungen. Die Leute beschweren sich, dass das alles viel zu negativ ist. Wir sehen auch, dass sich immer mehr abwenden und sagen: Ich verzichte freiwillig auf den Nachrichtenkonsum, weil ich davon deprimiert werde. Das natürlich ist eine ungute Entwicklung. Zum einen für unsere Gesellschaft, denn unsere Demokratien brauchen eben informierte Bürgerinnen und Bürger. Und zum anderen ist es natürlich auch schlecht für die Medienhäuser, die Einnahmen brauchen. Und wenn wir auf die jungen Leute schauen, dann ist die Situation besonders dramatisch. Die erwarten von Medien heutzutage, dass wir ihnen nicht nur die Probleme schildern, von denen es ja nun wirklich genug gibt, sondern auch mögliche Lösungen aufzeigen, um ihr Leben gut zu gestalten.

STANDARD: Eignen sich gewisse Themen besonders gut für diesen Journalismus?

Heinrichs: Wenn wir jetzt sagen, konstruktiver Journalismus ist lösungsorientiert, perspektivenreich und regt konstruktive Debatten an, dann kann man sagen, dass sich jeder Journalismus dafür eignet, konstruktiver zu werden. Welche Perspektiven hat Journalismus normalerweise nicht auf dem Schirm? Wen können wir noch mit reinholen? Wie können wir uns auf die Art und Weise auch neue Zuhörer- oder Lesergruppen erschließen? Insofern kann ich sagen: Konstruktive Ansätze im Journalismus gibt es immer und überall. Vielleicht mit Ausnahme der absoluten Breaking-News-Situationen, wo es eben wirklich nur darum geht, ohne jeglichen Kontext zu vermelden, was gerade passiert.

STANDARD: Zum Beispiel bei der Kriegsberichterstattung?

Heinrichs: Das ist ein gutes Stichwort. Auch Kriegsberichterstattung kann konstruktive Elemente enthalten oder kann auch nicht konstruktiv sein, wenn die Perspektiven auf zwei widerstreitende Parteien verkürzt werden und das nur auf politischer Ebene. Konstruktiver Journalismus würde eben sagen: Wir schauen, wer ist aller betroffen, und nehmen auch die Perspektive dieser Betroffenen ein. Das ist die Königsdisziplin. Wie kann man gerade in so einer Kriegssituation nicht nur in diese alten Rollen zurückfallen und diesen "He said, she said"-Journalismus betreiben, wo wir eben nur noch schauen, welche Pressemitteilungen oder welche Äußerungen von welchen Politikern bringen wir gerade? Sondern wie können wir eben auch stärker den Blick auf die Betroffenen zum Beispiel richten?

STANDARD: Geht es da etwa ums Thematisieren von Hilfsorganisationen und wo sich Leute Hilfe suchen können, oder wie könnten die Lösungsansätze aussehen?

Heinrichs: Ja, zum Beispiel. Aber es könnte etwa auch ein Blick in die Vergangenheit sein. Wann ist es einmal gelungen, einen Krieg zu beenden? Und wie hat das geklappt? Was können wir aus der Vergangenheit lernen? Hat es in der Vergangenheit schon einmal die Situation gegeben, dass eine Großmacht mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht hat? Und warum ist es nicht dazu gekommen? Eine Variante von Lösungsjournalismus ist zu schauen, wann etwas geklappt hat und was wir daraus für die Zukunft lernen können. Dass man nicht immer diesem journalistischen Reflex erliegt und schaut, wo es etwas nicht funktioniert.

STANDARD: Könnte man so von diesem weitverbreiteten Credo "Only bad news are good news" wegkommen?

Heinrichs: Ich glaube, dass die Medienbranche davon wegkommen wird. Durch die Möglichkeit, digital zu messen, werden wir zunehmend sehen, dass sie sich Leute dann mit Inhalten länger beschäftigen, wenn Journalismus eben nicht nur auf Probleme schaut, sondern auch Lösungen thematisiert. Oder wenn Journalismus relevante Inhalte anbietet, die wirklich auf Informationsbedürfnisse unserer Nutzenden einzahlen. Der Faktor Reichweite wird immer stärker in den Hintergrund rücken und ersetzt werden von der Dauer der Beschäftigung mit unseren Inhalten. Wir müssen relevante Inhalte mit Qualität produzieren. Erst dann entsteht Vertrauen, und Menschen sind bereit, für Journalismus zu bezahlen. Insofern stimmt dieser Satz "Bad news are good news" im digitalen Zeitalter nicht. Sie erzeugen zwar im ersten Moment sehr viel Reichweite, die Leute sind aber auch ganz schnell wieder weg, wenn sie die Headline gelesen haben. Wenn ich einen Mehrwert biete, bleiben sie länger. Und das ist natürlich sehr, sehr wertvoll für Medienanbieter.

Betrachtet man die vergangenen zwei Jahre mit der Pandemie und jetzt dem Krieg, so sind die Nutzerzahlen enorm hoch, und die Leute wenden sich nicht ab von den Medien, obwohl die schlechten Nachrichten in Dauerschleife laufen.

ei der Nutzungszeit sieht man: Je lösungsorientierter oder konstruktiver ein Inhalt ist, desto länger bleiben die Leute dabei. Und wenn Sie jetzt ein anzeigengetriebenes Monetarisierungsmodell haben, dann ist es für ein Medienhaus eine wirklich gute Entwicklung, wenn Sie es schaffen, die Leute länger auf Ihrer Seite zu halten. Genauso sagen aber auch Medienhäuser, die auf Abo- oder Mitgliedschaftsmodelle setzen, dass sie ja sehen können, wann die Leute ein Abo abschließen. Und alle Indizien deuten darauf hin, dass lösungsorientierte Berichterstattung eben darauf einzahlt, dass Leute gewillt sind, ein Abo abzuschließen. Und auch, dass die immer wieder zurückkommen und eine Loyalität aufbauen zu dem Haus. Und das ist natürlich auch für die Öffentlich-Rechtlichen wichtig und interessant, denn auch die brauchen Loyalität und Vertrauen in ihre Angebote. Ein Flugzeugabsturz löst im ersten Moment einen Klickimpuls aus, weil die Leute die Push-Nachrichten bekommen. Dann schauen sie schnell, nach zwei Sekunden sind sie aber wieder weg. Das ist weder für die Nutzenden noch für die Medien wertvoll.

STANDARD: Ist das für Medienhäuser auch eine Frage der Ressourcen?

Heinrichs: Ich höre oft, dass es ja so viel mehr Aufwand sein muss, konstruktiv zu berichten. Das sehe ich allerdings gar nicht so. Es gibt auch genug Probleme, die bekannt sind. Die muss man nicht erst mal aufwendig erzählen, sondern kann auch gleich mit der Lösungsrecherche einsteigen. Oder man lernt, andere Fragen zu stellen, die nicht nur auf schwarz und weiß abzielen. Es gibt so viele Perspektiven und so viele Meinungen. Wir im Journalismus könnten uns manchmal ein bisschen mehr Mühe geben, anstatt ausschließlich kurze O-Töne einzuholen, vielleicht auch tiefer vorzudringen und zu verstehen, was ist es denn wirklich, was die Leute bewegt? Also hinter die Kulissen und hinter die Parolen zu schauen. Da gibt es Fragetechniken, die eher im psychologisch-therapeutischen Umfeld bekannt sind, aber nie ihren Weg in den Journalismus gefunden haben. Das sind Möglichkeiten, unser Handwerk weiterzuentwickeln.

STANDARD: Und mit dem Institut wollen Sie den Journalistinnen und Journalisten auch dieses Handwerk zur Verfügung stellen?

Heinrichs: Wir werden Angebote machen. Wie kann man Lösungsjournalismus erlernen? Wie kann man konstruktive Debatten moderieren? Wie kann man anders fragen lernen? Und vor allen Dingen werden wir mit Medienhäusern Experimente durchführen, um dann auch zu messen: Wie verändert sich die Nutzung der Menschen, wenn ein konstruktives Format über einen längeren Zeitraum durchgehalten wird? Ist es dann tatsächlich so, dass die Leute länger bleiben? Oder ist es vielleicht so, dass wir weniger Hassrede in den Kommentarspalten haben? Oder ist es so, dass sie zum Beispiel mehr weibliche Nutzerinnen ansprechen können? Das ist ja auch für viele Medien ein großes Thema.

STANDARD: Das alles soll einen Beitrag leisten, um dieser Polarisierung, von der oft die Rede ist, etwas entgegenzusetzen?

Heinrichs: Das ist natürlich ein ganz wichtiges Thema. Wenn wir sagen Perspektivenreichtum, nuancierte Berichterstattung, dann geht es eben darum, dass wir uns als Journalisten wirklich bewusst machen, dass es nicht immer nur die eine und die andere Meinung gibt, sondern dass das ganze große Meinungsspektrum irgendwo dazwischen liegt. Die Mehrheit der Menschen hat unklare Meinungen. Wir sollten stärker dahin kommen, das Grau auch mit in die Berichterstattung einfließen zu lassen.

STANDARD: Und erkennen Sie das jetzt zum Beispiel im Zuge der Corona-Berichterstattung, dass diese Grautöne fehlen, weil es oft auch sehr schrill, sehr laut ist? Vor allem auch auf Social Media?

Heinrichs: Auf Social Media ist das so, aber auch oftmals in Talkshows, wo wirklich ganz häufig extreme Gegner und extreme Befürworter saßen und sich sehr, sehr viele Menschen genau in der Mitte befanden und gesagt haben: Ich bin ja gar keine Impfgegnerin, aber ich habe meine Ängste und Zweifel. Und anstatt sehr viel deutlicher auch darauf einzugehen, wo die Ängste und Zweifel der Menschen sind und Antworten zu finden, wurden sehr oft richtige Kämpfe zwischen diesen Extrempositionen inszeniert. Und das war am Ende des Tages nur ein sehr geringer Mehrwert für Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich ja weder mit der einen noch mit der anderen Seite so richtig identifizieren konnten.

STANDARD: Sie haben in einem Interview gesagt, dass die "Bild"-Zeitung im Zuge der Corona-Berichterstattung viele Leserinnen und Leser verloren habe. Im Gegensatz dazu haben etwa die "Zeit" und anderen Medien gewonnen, weil sie ein differenzierteres, konstruktiveres Bild gezeichnet haben.

Heinrichs: In der Corona-Berichterstattung haben tatsächlich Medien gewonnen, die sehr nutzwertige, faktenbasierte Inhalte geboten haben. Und diejenigen, die am lautesten waren und am stärksten polarisiert haben, konnten nicht profitieren. Das hört man ja auch im privaten Umfeld und überall. Menschen sind diese schrillen Töne wirklich leid. Ob Corona, Krieg in Europa oder die Klimakrise: Es wird nicht einfach werden in der Zukunft. Und die Frage ist: Wie können Medien Menschen darin unterstützen, sich in dieser komplexen Situation zurechtzufinden und letztlich auch den Mut nicht aufzugeben? Unsere Gesellschaften brauchen Menschen, die sich gut informieren, die gute Entscheidungen treffen können und sich nicht nur noch ins Private zurückziehen, weil sie nicht mehr bereit sind, Gesellschaft mitzugestalten. Wenn Medien die vierte Säule der Demokratie sein wollen, müssen sie diese Demokratie proaktiv mitgestalten. Und das bedeutet, dass man die Menschen mit den Problemen nicht alleinlassen darf, sondern auch schaut, welche Lösungsmöglichkeiten es gibt.

STANDARD: Eine immer wieder formulierte Kritik ist ja, dass der konstruktive Journalismus kritiklos und der Unterschied zwischen Aktivismus und Journalismus nicht klar sei.

Heinrichs: Ich beschäftige mich jetzt schon seit sechs Jahren mit dem Thema, und mindestens die ersten vier Jahre habe ich damit zugebracht zu argumentieren, dass konstruktiver Journalismus nicht unkritisch ist, dass es keine PR ist. Jetzt höre ich das nur noch sehr selten. Über Lösungen kann man trefflich streiten, nicht nur über Probleme. Es können Lösungen in die Öffentlichkeit getragen werden, mit denen dann Mächtige konfrontiert sind, die sich die Frage gefallen lassen müssen: Warum passiert hier eigentlich noch so wenig? Und insofern ist das wirklich eine Mär. Aber wie gesagt, ich höre immer seltener, dass konstruktiver Journalismus unkritisch ist.

STANDARD: Gibt es große Unterschiede zwischen Boulevard- und Qualitätsmedien beim Ansatz des konstruktiven Journalismus?

Heinrichs: Das Projekt konstruktiver Journalismus zahlt schon auf Medienqualität ein, da es eben nicht auf eine sehr starke Vereinfachung abzielt, sondern Komplexität auch zulässt. Allerdings würde ich schon sagen, dass konstruktiver Journalismus unbedingt auch abseits von Eliten stattfinden soll. Er ist für junge Zielgruppen oder auch für Zielgruppen mit migrantischem Hintergrund sehr gut geeignet. Gerade die werden in den Medien oft überhaupt nicht ausreichend mit ihren Perspektiven gespiegelt und fühlen sich abgehängt. Und das ist eine große Chance, dass man diese Leute mit Journalismus erreicht.

STANDARD: Teilhabe statt Rückzug?

Heinrichs: Es gibt natürlich auch Boulevardmedien, deren Geschäftsmodell die Spaltung und Polarisierung ist. Und natürlich muss man denen jetzt nicht mehr mit konstruktivem Journalismus kommen, aber wenn man darüber spricht, ob es für junge oder bildungsferne Zielgruppen geeignet ist, dann würde ich sagen: Ja, ganz unbedingt. Was ist denn für diese Leute relevant? Auf welche Art und Weise können sie den Journalismus konsumieren? Hier helfen konstruktive Ansätze und eine unbedingte Nutzerzentrierung sehr weiter. (Oliver Mark, 29.3.2022)