Unter dem Motto "Es ist fünf nach zwölf" forderte die "Offensive Gesundheit" bereits im vergangenen Herbst und zuletzt im Februar besser Arbeitsbedingungen im Gesundheitsbereich.

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Wien – Hunderte Gefährdungsmeldungen, die die Rechercheplattform "Dossier" in den vergangenen Monaten recherchiert hat, machen die Personalnot in den heimischen Spitälern deutlich. Die personellen Engpässe im Pflegebereich betreffen demnach alle Bundesländer, öffentliche wie private Krankenhäuser und haben mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das – nicht erst seit Corona – zur "Gefahr für Patientinnen und Patienten" geworden ist, wie "Dossier" zusammenfassend festhält.

"Hart an der Grenze zur gefährlichen Pflege"

Pflegekräfte sind gesetzlich verpflichtet, gefährliche Situationen, die durch personelle Unterbesetzung entstehen und die nicht im persönlichen Wirkungsbereich entschärft werden können, zu melden. Mehr als 350 derartiger Gefahrenanzeigen aus den Jahren 2018 bis 2022 hat sich die Investigativplattform näher angesehen. Diese lesen sich teilweise mit Erschrecken: "Es ist Wahnsinn, bei der Abendrunde läutet es nur, man weiß kaum, wo man zuerst sein soll, natürlich setzt man Prioritäten, doch man sieht nicht alles, weil man muss alleine arbeiten (leider). Die Patienten (...) haben Durst, Verwirrte schreien die ganze Nacht (...), viele Sterbende bzw. Palliativpatienten, die möchten reden? Kaum Zeit." Eine andere Pflegekraft berichtet: "Mobilisationen konnten aufgrund von Zeitmangel nicht durchgeführt werden. Essenseingaben können teilweise nur kurz oder gar nicht erfolgen." "Einen Nachtdienst mit so vielen frisch operierten Patienten an einer Normalstation alleine leisten zu müssen ist hart an der Grenze zur gefährlichen Pflege", bemerkt eine andere Fachkraft.

Diese Alarmsignale würden "systematisch überhört", heißt es in dem "Dossier"-Bericht. Krankenhausträger in Nieder- und Oberösterreich räumen demnach ein, dass Gefährdungsmeldungen nicht zentral erfasst werden. Aus anderen Bundesländern heißt es, die Anzeigen würden "intern behandelt". Einen genauen Überblick gibt es offenbar nicht: Offiziell sind in Wien in den Jahren 2020 und 2021 aus den städtischen Kliniken 85 Gefährdungsmeldungen eingegangen, die Gewerkschaft Younion kommt allerdings auf 195.

Drohung mit Kündigung

Für Pflegerinnen und Pfleger, die – auch im Interesse der Patientinnen und Patienten – Missstände aufzeigen, hat das oft negative Folgen. "Dossier" berichtet etwa vom Fall einer Krankenpflegerin, der daraufhin die Kündigung angedroht wurde. Andere wurden mit schlechteren Dienstplänen bedacht oder versetzt. "Wir haben in der Pflege teilweise noch ein Managementverständnis aus den 1970er-, 1980er-Jahren. Mit Druck und Manipulation wird geführt. Da ist nicht vorgesehen, dass jemand ausschert", wird in diesem Zusammenhang Elisabeth Potzmann, Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbands (ÖGKV), im "Dossier" zitiert.

Im Gespräch bekräftigte Potzmann ihre Kritik: "Man sieht immer wieder, dass in dem Moment, wo jemand Kritik an Missständen übt oder gar an die Öffentlichkeit gegangen wird, mit Repressalien reagiert wird." Im Managementbereich mangle es oft "am Wissen, wie man Personal führt, motiviert und halten kann".

Viele wollen die Branche verlassen

Es gebe allerdings auch eine "Krise im mittleren Management", erläuterte Potzmann. Diese Ebene erlebe "Druck von unten", nämlich von überlasteten Pflegerinnen und Pflegern, die in der Corona-Pandemie zusätzlich eine "massive Arbeitsverdichtung" durch das Anziehen von Schutzkleidung, regelmäßiges Testen auf Sars-CoV-2 und das Beachten weiterer Schutzmaßnahmen erfahre. Auf der anderen Seite wolle die Führungsebene "den Laden am Laufen halten", was sich kaum umsetzen lasse. Das führe dazu, dass im mittleren Management tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Beruf wechseln und sich offene Stellen nicht nachbesetzen lassen.

Vom diplomierten Gesundheitspersonal, das direkten Kontakt zu Patientinnen und Patienten hat, dürfte eine erkleckliche Zahl einen Jobwechsel andenken oder schon vollzogen haben, vermutete Potzmann. Eine im Frühjahr 2021 erstellte Studie zeigte nämlich, dass von den "Diplomierten" fünf Prozent eine Kündigung zumindest vorhatten. Das würde bedeuten, dass mehrere tausend qualifizierte Mitarbeiter dem Pflegeberuf Lebewohl gesagt haben beziehungsweise kurz davor stehen.

Pflegepersonal als Koch und Putzfrau gleichzeitig

Meldungen über Missstände in der Pflege sind auch über das CIRSmedical möglich, ein öffentliches Critical Incident Reporting-System, das von der Österreichischen Gesellschaft für Qualitätssicherung & Qualitätsmanagement in der Medizin (ÖQMed) betrieben wird. Über www.cirsmedical.at können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen, Patientinnen und Patienten oder Angehörige anonym über Zwischenfälle berichten. Die Hinweise werden geprüft und an Expertinnen und Experten weitergeleitet, die dazu Fachkommentare verfassen.

"Der Personalmangel in der Pflege wird seit Jahren diskutiert, Reformen werden aber keine angegangen", beklagte Neos-Gesundheitssprecherin Fiona Fiedler. Damit Pflege wieder ein attraktives und sicheres Arbeitsumfeld wird, sei es "höchste Zeit für ernsthafte Reformen". Fiedler verlangte in einer übermittelten Stellungnahme bundesweite Qualitäts- und besonders Personalkriterien, "um das Pflegepersonal zu entlasten und die Betreuung und Behandlung der Patientinnen und Patienten sicher zu stellen. Pflegepersonal darf nicht länger als Koch, Physiotherapeutin, Zimmermädchen und Putzfrau gleichzeitig eingesetzt werden."

Die Sozialwirtschaft Österreich (SWÖ) äußerte indes in einer Presseaussendung die Befürchtung, notwendige Investitionen in den Pflege- und Sozialbereich könnten wieder einmal zu kurz kommen. "Wir sollten – auch angesichts des furchtbaren Ukraine-Krieges – nicht die Lehren aus der Corona-Pandemie vergessen", gab SWÖ-Vorsitzender Erich Fenninger zu bedenken. Die pflegerische Versorgung stoße "ohne massive finanzielle Anstrengungen an ihre Grenzen". Die oft angekündigte Pflegereform müsse endlich in die Gänge kommen. (APA, 28.3.2022)