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Das Kind steht immer an erster Stelle – das ist das, was viele Eltern so fertig macht, sagt die Buchautorin Katharina Pommer. "Wichtig wäre es, wieder das Gefühl zu bekommen: Mich gibt es auch noch."
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Ein Kind zu bekommen ist eine überwältigende Erfahrung: Da ist eine vergleichslose Liebe zu diesem neuen Wesen – zugleich ist man übermüdet und im Dauerstress. Nicht wenige Eltern haben sich das Leben mit Kind einfacher vorgestellt, beobachtet auch die Familientherapeutin Katharina Pommer. "Man hat keine Ahnung, wie anstrengend es ist, bevor man es nicht erlebt hat." Von dieser Überforderung und über die Auswege schreibt Pommer in ihrem neuen Buch Vom Umtausch ausgeschlossen. Was Eltern nicht zu sagen wagen (Goldegg-Verlag).

Im Gespräch mit dem STANDARD beschreibt die Expertin, was das mit jemandem macht, wenn er die Idee "Vater-Mutter-Kind-Hund-Katze-Haus" romantisiert hat und die Realität dann eine ganz andere ist. Sie erklärt auch, wo der Stress vieler Mütter eigentlich herrührt, warum er neuerdings auch Väter begrifft, und was Eltern tun können, wenn sie an ihren Grenzen sind. Ein Interview über ungelebte Träume, Nudeln mit Tomatensauce und falsch verstandene Fürsorge.

STANDARD: Ständig hört man Eltern jammern, wie anstrengend das Leben mit Kind nicht sei. Hätten sie sich das nicht vorher überlegen sollen?

Pommer: Nach dieser Logik könnte man auch ein Paar, das sich scheiden lässt, fragen, wieso es überhaupt geheiratet hat. Wenn der Mensch so ticken würde – und alles immer schon vorher ganz genau wüsste, wäre das Leben doch erstens ziemlich langweilig und zweitens würden wir nie etwas dazulernen.

Die Frage ist doch eher: Welche Konsequenz zieht jemand in dieser Situation? Wenn ich mir dringend ein Kind wünsche und dann total gestresst bin: Was mache ich dann? Eine Möglichkeit wäre, mein Lebensmodell zu ändern und etwa in eine große Lebensgemeinschaft zu ziehen. Oder zurück zu den Eltern, um sich von ihnen helfen zu lassen. Oder ich entschleunige mein Leben. Auch der Beschluss, dass es ein Einzelkind bleiben wird, kann eine Konsequenz sein.

STANDARD: Idealisieren wir das Elternsein im Voraus?

Pommer: Natürlich tun wir das. Wenn die Natur das nicht so eingerichtet hätte, würde die Menschheit aussterben. Man hat keine Ahnung, wie anstrengend es ist, bevor man es nicht erlebt hat. Bis dahin kann man sich nicht vorstellen, wie es wirklich ist, wenn man fünf Nächte nicht durchgeschlafen hat, das Kind die Windel voll hat, schreit und man komplett vollgekotzt ist. Davon erzählt einem ja auch selten jemand ehrlich. Denn selbstverständlich ist es auch schön, wenn Kinder zur Welt kommen, sie sind eine große Freude. Das Gute: Wir behalten die anstrengenden Zeiten weniger in Erinnerung. Wir merken uns eher das Positive. Selbst Eltern von Schreibabys können sich ein paar Jahre später schon nicht mehr an ihren Frust erinnern. Sie romantisieren diese erste Zeit und sagen zueinander: Weißt du noch, damals? Als wir schon so verzweifelt waren, dass wir den Axel auf die Waschmaschine gestellt haben?

STANDARD: Auf Instagram zeigen viele Accounts die perfekte pastellfarbene Welt mit glücklichen schlafenden Babys und selbstgebastelten Geburtstagsgirlanden. Ist dieses Schönzeichnen fair gegenüber anderen Eltern?

Pommer: Ich glaube, dass es, wie bei allem, ein Gleichgewicht braucht. Es braucht sehr wohl die Eltern, die zeigen, wie toll es nicht sein kann, Kinder zu haben. Weil das ja auch Hoffnung und Kraft geben kann – in Zeiten, in denen man gar nicht mehr kann und versucht ist, sein Kind zu verteufeln. Die Kinder, das ist bewussten Eltern auch klar, sind nicht für deren Frust verantwortlich.

Es braucht aber auch das Zeigen von Frust und Überforderung, damit wir selber erkennen, wenn wir gerade im Hamsterrad der Elternschaft laufen, im Perfektionismus feststecken und denken, alles so machen zu müssen, wie es im Ratgeber steht. Da hilft uns die Ehrlichkeit anderer, wieder auf den Boden zu kommen.

STANDARD: In welcher Situation sind denn die Familien, die zu Ihnen kommen?

Pommer: Interessanterweise kommen viele Eltern deshalb zu mir, weil sie denken, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt. Nicht, weil bei ihnen etwas nicht stimmt. Dass sie nur durch den Alltag funktionieren, realisieren viele erst sehr spät – oft erst dann, wenn das Kind aufhört zu funktionieren. Meistens ist es so, dass es irgendeine Krise gibt. Das Kind bringt zum Beispiel nur noch schlechte Noten nach Hause oder ist nur noch auf Tiktok.

STANDARD: Es stellt sich also erst nach und nach heraus, dass die Probleme auch die Partnerschaft betreffen?

Pommer: Genau. Da gibt es oft eine Überforderung oder ungelebte Träume. Es kann auch sein, dass die Idee "Vater-Mutter-Kind-Hund-Katze-Haus" romantisiert wurde und der Alltag einem jetzt voll vor die Füße spuckt. Damit, dass Vorstellung und Realität nicht selten weit auseinanderliegen, muss man auch erst einmal zurechtkommen! Nach der Geburt eines Kindes sagt jeder zu einem: "Mah, wie schön, ein Baby! Jetzt seid ihr vollkommen, eine Familie!" Aber das eigene Gefühl ist ganz anders. Man hat drei Tage nicht geduscht, streitet sich nur noch, und das Kind macht nicht, was man will – nämlich nachts Ruhe geben. Die Angst, seine Überforderung zuzugeben, führt allerdings dazu, dass sich viele leider erst sehr spät Hilfe suchen.

STANDARD: Sie sagen: Meistens initiieren die Frauen die Therapie und nehmen ihr Männer mit. Aber auch die rücken nach ein paar Sitzungen damit heraus, dass sie sich das Vatersein eigentlich ganz anders vorgestellt haben ...

Pommer: Auch sie fühlen sich zunehmend zerrissen, befinden sich oft in einer Identitätskrise. Sie merken, dass sie es besser machen möchten als der eigene Vater – der immer arbeiten oder viel zu streng war –, aber müssen erst ihre Rolle in der neuen Familienkonstellation finden. Außerdem ist eine präsente Vaterschaft natürlich auch sehr fordernd. Die meisten Väter gehen ja parallel Vollzeit arbeiten, weil sie immer noch in den Berufen sind, in denen sie mehr verdienen als Mütter. Laut Umfragen wollen aber über 70 Prozent der Väter auch in Elternzeit gehen. Durch diese Gleichzeitigkeit der alten und der neuen Welt entsteht natürlich auch Frust.

Dann haben sich auch noch die Erziehungsstile geändert. Man will das Kind nicht einfach auf sein Zimmer schicken, wenn es bockig ist – aber alles auszudiskutieren kostet natürlich Kraft und Zeit.

STANDARD: Was tut man, wenn man einfach nicht mehr kann?

Pommer: Zunächst muss man sich das einmal selbst eingestehen. Zwischen Arbeit, Homeoffice und Kindern nehmen wir uns oft nicht die Zeit, in uns hineinzuspüren und uns zu fragen: Wie geht es mir eigentlich mit diesem Alltag? Was tut mir gut – und was nicht? So kann man herausfinden, was man ändern muss. Als Nächstes muss man sich die Frage stellen, wie die Veränderung aussehen kann. Es muss nicht immer alles von jetzt auf gleich passieren, es reichen kleine Schritte. Wenn man zum Beispiel wahrgenommen hat, dass einem frische Luft und Bewegung fehlen, muss man herausfinden, wie man dreimal die Woche 20 Minuten freischaufeln kann, um spazieren zu gehen.

Ein Beispiel: Ich habe eine Freundin, die immer die Essensreste der Kinder gegessen hat. Irgendwann hat sie gemerkt, dass sie das stört – weil es immer Gerichte waren, die sie gekocht hat, weil sie den Kindern schmecken. So etwas wie Nudeln mit Tomatensauce. Mittlerweile kocht meine Freundin einmal die Woche etwas, das vor allem ihr schmeckt.
Ich glaube, viele Eltern sind so frustriert, weil sie das Gefühl der Selbstaufgabe haben. Alles dreht sich nur noch ums Kind. Wichtig wäre, wieder das Gefühl zu bekommen: Mich gibt es auch noch.

STANDARD: Was sind denn die Dinge, auf die es wirklich ankommt? Brauchen Kinder selbstgebackene Dinkelmuffins oder ausgiebige Basteleinheiten?

Pommer: Wenn ich Backen und Basteln mag, super. Aber wenn ich es nicht mag, muss ich das auch nicht machen. Denn in erster Linie geht es um Authentizität. Es ist wichtig, sich einzugestehen, dass man eben nicht diese Mami ist, die drei Stunden pro Tag am Fußballplatz verbringt. Dass ich es grandios finde, wenn mein Kind Fußball spielt, auch gerne mal dabei bin, aber nicht permanent.

STANDARD: Außerdem?

Pommer: Außerdem braucht ein Kind ein feinfühliges Miteinander. Feinfühlig heißt, dass im ersten Jahr die Grundbedürfnisse – die nach Geborgenheit, Liebe, Sicherheit, Nahrung und Aufmerksamkeit– so schnell wie möglich und so feinfühlig wie möglich gestillt werden. Und dabei ist dem Kind völlig wurscht, ob das die Mama, der Papa oder das Au-Pair macht, es wählt den als erste Bezugsperson aus, der am feinfühligsten ist. Ab dem zweiten Lebensjahr ist es wichtig, ein Kind zu ermutigen, die Welt zu entdecken, und gleichzeitig weiterhin der sichere Hafen zu sein. Ab zwölf Jahren sind Eltern dann bestenfalls die Mentorinnen und Mentoren und nicht mehr die "Erziehenden", dann klappt es auch entspannter in der Pubertät.

STANDARD: Wann können wir am feinfühligsten sein?

Pommer: Wenn wir authentisch sind und gut auf uns selbst achten. Wenn ich mir immer vorsage: "Eine Mama muss immer lieb sein", dann gehe ich über meine Grenzen. Das merkt mein Kind. Ehrlich wäre es zu sagen: Ich brauche eine Pause, mein Mann oder die Oma übernehmen. Ich habe keine Lust, heute Blockflöte, Reiten und Chinesisch mitzumachen. Ich nehme mir heute einen freien Tag.

Die sogenannte schwarze Pädagogik war alles andere als gesund – aber diese neue Denkweise, dass es die Selbstaufgabe der Eltern braucht, das ist auch nicht gesund. Eltern brauchen Kraft, um ihr Kind bedürfnisorientiert und feinfühlig zu begleiten, deshalb brauchen sie auch ausreichend Pausen für Dinge, die ihnen Spaß machen – ohne schlechtes Gewissen. (Lisa Breit, 18.4.2022)