Crunch und Mobbing scheinen zu strukturellen Problemen der Branche gewachsen zu sein.

Foto: Moon Studios

"Tod durch tausend Schnitte", wie es ein Entwickler beschreibt, der als einer von vielen in einer ausführlichen Geschichte des US-Magazins "Venturebeat" über die Missstände beim mehrfach ausgezeichneten und in Wien ansässigen Indie-Entwickler Moon Studios berichtet. Kein Einzelfall, wenn man die Schlagzeilen der letzten Jahre rund um ähnliche Entwicklungen bei großen Publishern wie Ubisoft oder Activision Blizzard mitverfolgt hat, wo zusätzlich zu Mobbing-Vorwürfen auch noch Klagen wegen Sexismus gegen die Games-Firmen eingereicht wurden.

Aber wie kommt es zu solch einer Bully-Kultur? Warum schaffen es Mitarbeiter nicht, sich aus solchen Situationen zu befreien? Wer lebt diese Kultur vor, und gibt es Personengruppen, die besonders darunter leiden? Der STANDARD hat in Kooperation mit FM4 mehrere Interviews mit Betroffenen und Experten geführt, um diese Fragen beantworten zu können.

Emotionaler Missbrauch

Es sind bedrückende Zitate, die der Bericht von "Venturebeat" den Entwicklerinnen entlockt, die über ihre Erlebnisse bei den Moon Studios berichten. "Mein Ziel ist es, dass Menschen über Moon Bescheid wissen, damit niemand mehr verletzt werden kann", wird ein Entwickler zitiert. "Wenn man mehrere Jahre unter diesen Bedingungen arbeitet, dann sieht man richtig, wie sich das auf die psychische Gesundheit der Leute auswirkt," erzählt ein anderer über seine Arbeit bei dem Indie-Entwickler, der unter der Leitung des Österreichers Thomas Mahler steht. Mahler war in der Vergangenheit oftmals ein Quell provokanter Sager. 2015 sprach er der heimischen Entwicklerszene alles Talent ab, 2016 kritisierte er lautstark den Umgang von Nintendo mit Drittherstellern, und 2021 platzte ihm aufgrund der seiner Meinung nach etablierten Lügen in der Gaming-Szene der Kragen.

Seine eigene Firma, die Moon Studios, war vor allem wegen der zwei ausgezeichneten Ori-Games in den Schlagzeilen, da sie auch mit Top-Wertungen und Auszeichnungen überhäuft wurden. Zu welchem Preis diese Spiele entstehen mussten, davon weiß die Öffentlichkeit erst seit wenigen Tagen.

Ein angefragtes Statement gegenüber dem STANDARD zu der Causa blieb der Studio-Boss schuldig. Gegenüber "Venturebeat" schrieben Mahler und der zweite CEO Gennadiy Korol: "Wir glauben nicht, dass die durch den Text vermittelten Erfahrungen repräsentativ für die mehr als 80 Teammitglieder von Moon Studios sind." Man sei nicht perfekt, aber man würde sich sehr um die eigenen Talente kümmern. "Wenn wir jemals dafür gesorgt haben, dass sich jemand unwohl fühlt oder sich im Stich gelassen gefühlt hat, bedauern wir das und werden uns deshalb immer bemühen, es künftig besser zu machen."

People Make Games

Kurz vor der Geschichte über die Moon Studios veröffentlichte auch "People Make Games" ein Video passend zu der Thematik. Unter dem Titel "Ermittlungen gegen drei Indie-Superstars" ließ das Magazin ausgewählte Entwicklerinnen zum Thema emotionaler Missbrauch zu Wort kommen, die über ähnliche Dinge berichteten wie die Kollegen der Moon Studios. Über Selbstmordversuche aufgrund täglichen Mobbings, Depressionen und andere furchtbare, persönliche Entwicklungen – meist durch empathieloses Gehabe der Vorgesetzten. Ideen wurden nicht als schlecht bezeichnet, sondern als dumm und peinlich.

Egal wer von den Betroffenen seine Erfahrungen auf Social Media mitteilte – innerhalb kürzester Zeit bestätigten zahlreiche Kommentare, dass dies keine Einzelfälle seien. Es handelt sich offenbar mittlerweile um ein strukturelles Problem in vielen Teilen der Branche.

Nachgefragt

Das sieht auch die Social- und Community-Managerin Manuela (Name von der Redaktion geändert) so, die bei zwei Arbeitgebern in der Branche diese Kultur miterleben musste. Die Namen der Firmen sind dem STANDARD bekannt, sollen hier aber nicht erwähnt werden, um Manuela zu schützen. Auch sie fürchtet um ihren Job, würde sie mit ihrem Namen der Öffentlichkeit von ihren Erlebnissen erzählen.

Auf die Frage, wie solch eine Kultur in einer Firma entstehen kann, sagt die junge Frau: "Meiner Erfahrung nach sind Angst und Stillschweigen die größten Faktoren, wie sich Crunch – also ewig viele Überstunden über einen langen Zeitraum – und Ausbeutung in der Branche halten können." Durch eine hohe Fluktuation in vielen dieser Firmen würden auch nicht viele Mitarbeiterinnen von ihren Erlebnissen erzählen und andere warnen können. Es würden sich in Unternehmen sehr wohl "stille Netzwerke" unter jenen bilden, die Missstände erlebt haben und darüber sprechen wollen, aber auf diese hätten neue Mitarbeiter keinen Zugriff.

Ein großes Problem sei auch, dass viele aus Begeisterung für Spiele in der Szene anfangen würden und für diese Passion bereit wären, viel aufzugeben. "Das starke Engagement von jungen Mitarbeiterinnen wird oft ausgenutzt", sagt Manuela. Diese Frauen und Männer würden sich beweisen wollen, und das könne schnell einen Graben durch die Firma ziehen zwischen jenen Leuten, die vor Crunch und Burnout warnen, und jenen, die daran nicht glauben wollen.

Das bestätigt auch der auf Gaming spezialisierte Doktor der Psychologie Ben Strobel. Es seien vor allem Kreativbranchen, die von solchen Dynamiken betroffen seien. Die Gefahr einer "persönlichen Selbstausbeutung" sei laut Strobel immer dann gegeben, "wenn sich Personen sehr stark mit dem Produkt identifizieren, etwa weil man eigene kreative Ideen verwirklichen konnte".

Viele betroffene Entwicklerinnen gehen nicht an die Öffentlichkeit, aber nur so kann sich etwas ändern.
Foto: People Make Games

So fielen von Firmen verlangte Crunch-Zeiten häufig auf nahrhaften Boden, denn es finden sich viele junge Menschen in der erst rund 50 Jahre alten Branche, die in vielen Fällen ihren ersten Job und so auch keine Vergleichsmöglichkeiten hätten, wie es denn anderswo sei. Bei einer Befragung der International Game Developer Association gaben rund 50 Prozent der Befragten an, Crunch würde von ihrem Arbeitgeber erwartet werden – entweder stillschweigend oder auch offen an die Mitarbeiter kommuniziert. In der Praxis bedeutet das 80 bis 100 Stunden dauernde Arbeitswochen und das im schlimmsten Fall über Monate.

Bei vielen Beispielen, egal ob bei den großen Studios oder eben den kleineren Indie-Entwicklern, steht oftmals ein starker Mann vor, der die Selbstaufgabe auch in der Öffentlichkeit zelebriert. In einem Interview mit dem STANDARD erzählte der damals noch am zweiten Teil der Ori-Saga arbeitende Thomas Mahler, er würde oft "von sechs bis drei Uhr früh" arbeiten. In einem anderen Interview erzählte er auch von daraus resultierenden gesundheitlichen Problemen.

In dem Buch "Blood, Sweat and Pixels" deckte der Journalist Jason Schreier ähnliche Geschichten in der Games-Branche auf, und auch die erwähnte Dokumentation über die Indie-Studios prangert unter anderem den nicht gerade öffentlichkeitsscheuen Ken Wong an, seine Mitarbeiter emotional missbraucht zu haben.

Mehrere Faktoren

An einer Sache – also dem übermotivierten Chef, der im schlimmsten Fall über Leichen geht – könne man das Problem aber nicht festmachen, so Psychologe Strobel. Die Sache sei viel mehr "multifaktoriell". Oft gehe man davon aus, dass anfängliches Missmanagement schuld an zeitlichen Verschiebungen gewesen sei, aber es würde auch genauso oft an persönlichen Erwartungshaltungen liegen, die gerade im Indie-Bereich oft sehr hoch gesteckt würden. Man wolle sich und der Szene ja etwas beweisen. Wie man es auch auslegt, die grundsätzlich falsche Annahme sei, dass man automatisch mit einem Mehr an Arbeit ein besseres Produkt produzieren würde. Eine Vielzahl von Befunden zeigt allerdings laut Strobel, dass das Gegenteil stimmt. Zu Crunch gebe es wenig empirisches Material, weil die Firmen diesbezüglich wenig Einblick gewährten, aber wenn man generell Arbeitszeiten analysiere, dann würde sich eine große Anzahl an Überstunden eher negativ auf die Leistung auswirken.

Rockstar hatte nachweislich bei "GTA" und "Red Dead Redemption" viel von den Mitarbeitern verlangt. Manche davon gingen damals aufgrund der harten Crunch-Zeit auch an die Öffentlichkeit.
Foto: Rockstar

Crunch werde aber nicht nur durch die langen Arbeitszeiten definiert, so Strobel, sondern auch durch den emotionalen Druck, der in dieser Zeit entsteht. "Hier geht es nicht alleine um die Erwartungshaltung der Führungsetage, sondern genauso um die der Kolleginnen." Wenn es die Kultur der Firma sei, lange zu arbeiten, dann wird das auch von allen erwartet. Der öffentliche Diskurs würde dann sein übriges tun – etwa wenn Blockbuster wie "Cyberpunk 2077" oder "Battlefield 2042" kurzfristig verschoben würden und das eine Social-Media-Welle der Missgunst über die Entwickler brechen ließe. Das erzeuge einen enormen zusätzlichen Druck auf die Verantwortlichen, der sich dann auch auf die Angestellten übertrage.

Beide Seiten

Dietmar Hauser, seit 20 Jahren Programmierer in der Spieleindustrie und auch für die österreichische Interessensvertretung PGDA tätig, kennt beide Seiten. Er war viele Jahre beim heimischen Entwickler Sproing für rund 40 Programmierer verantwortlich und arbeitet derzeit als Selbstständiger unter anderem für Epic Games.

Crunch hätte er immer wieder erlebt, sagt Hauser. Zu Projektbeginn, egal bei welcher Firma, ist meist noch alles im grünen Bereich, aber wenn der Stresslevel im Unternehmen steigt, erst dann kristallisiert sich heraus, wie das Arbeitsumfeld wirklich ist – hier trenne sich die "Spreu vom Weizen", wie es Hauser nennt. In vielen Firmen versuche man, nach Crunch-Zeiten das Stresslevel der Mitarbeiter wieder zu senken, um vor dem nächsten Crunch erholt zu sein – jene Firmen, die es nicht schafften, diese Kurve regelmäßig zu senken, begäben sich auf einen "Death March", also unendliche Überstunden bis zum Projektende oder darüber hinaus, weil schon das nächste Spiel in Arbeit sei.

Die Komplexität der meisten Spiele nimmt zu – genau wie der Druck, am wachsenden Markt bestehen zu können.
Foto: imago/Jürgen Schwarz

Als Führungskraft sei es ihm auch immer wieder passiert, dass Leute unter ihm aufgrund von Stress eingeknickt sind. Wenn bei Mitarbeitern etwa persönliche Probleme zusätzlich zu einer hohen Arbeitslast das Fass zum Überlaufen bringen, dann könne man als Vorgesetzter schon auch von solchen Situationen überrascht werden. "Einmal schlitterte einer meiner Mitarbeiter in einen Burnout und wurde nur rein zufällig weinend im Stiegenhaus aufgefunden", erzählt Hauser. Wäre es hier nicht zu einer Aussprache gekommen, er hätte vielleicht nie von den Problemen des jungen Mannes erfahren, obwohl er sich selbst immer als offene Führungskraft positioniert hatte. Es könne also passieren, führt Hauser weiter aus, dass nicht immer allein die Führungskraft die Fäden in der Hand habe. Zu hohe Anforderungen an sich selbst und die bei jungen Entwicklern fehlende Erfahrung könnten ebenfalls zu einer Überforderung führen. Er selbst sei als junger Programmierer auch ein Kandidat gewesen, in so eine Falle zu tappen – aber er habe Glück gehabt, dass es nie so weit kam.

Um diese Missstände zu beenden, bräuchte es viele Dinge. Mehr Selbstreflexion und mehr Management-Ausbildungen für die Verantwortlichen. "Die Fähigsten in ihrem Fachgebiet steigen oft in leitende Rollen auf, für die sie vielleicht gar nicht geeignet sind." Wenn eine Firma dann kontinuierlich wachse, könne es schnell zu Überforderungen kommen, die dann auf die Gesundheit der Mitarbeiter gehe und für alle Beteiligten unangenehm sei. Covid habe diese Situationen natürlich zusätzlich verschärft, seien doch viele persönliche Gespräche und generell Zwischenmenschliches oft weggefallen.

Lösungsvorschläge

Der Psychologe Ben Strobel schließt aus, dass es sich bei dem Crunch-Problem um einen Missstand handelt, der nur von vereinzelten Personen ausgelöst wird. Die Häufung zeige ganz deutlich, dass es sich hier um Strukturen handle, die ein "Umfeld von schwierigen Arbeitsbedingungen" geschaffen haben. Das gelte für die großen Studios genauso wie für Indie-Entwickler. Es fehlen aktuell oftmals noch die sicheren Rahmenbedingungen für ein sicheres Arbeitsverhältnis, das bessere Karrierechancen oder ein sicheres Gehalt beinhalten würde. Speziell im Indie-Bereich erhöhten diese Unsicherheitsfaktoren oftmals den psychischen Druck.

"Ein wichtiger Schritt wäre es, die Passion für eine eigene Vision und damit von einer eigenen Ausbeutung oder einer Ausbeutung anderer zu trennen." Man muss sich laut Strobel regelmäßig damit auseinandersetzen, dass diese Praktiken gar nicht erfolgreich sind und sowohl die Gesundheit als auch Produktivität schädigen.

2015 gab es eine Befragung im Rahmen des Game Outcomes Project. Die Teilnehmer, die unter unterschiedlichen Bedingungen gearbeitet hatten, gaben an, mit aktivem Crunch zehnmal so oft erfolglos gewesen zu sein als bei vergleichbaren Projekten, bei denen Crunch nicht zur Regel gehörte. Ob das an der gängigen Praxis etwas ändern wird, daran zweifelt Strobel. Lippenbekenntnisse oder Statements von Einzelpersonen könne man glauben, sie aber nicht überprüfen. Es brauche "Rahmenbedingungen wie Gewerkschaften oder Arbeitsschutzgesetze, die strukturell dazu beitragen, diese Bedingungen zu verbessern, dass wir auf keine Versprechungen mehr angewiesen sind", sagt Strobel. Dazu könnten verpflichtende Maßnahmen zählen, die sich um die psychische Gesundheit der Mitarbeiter kümmern, und die dazu passenden Schulungen, wie man vom Stress des Alltags gezielt Abstand nehmen kann.

Beispielsweise das Telefon abschalten, keine E-Mails in der Freizeit lesen und erholsame Aktivitäten setzen, etwa gesellschaftliche Events oder Sport. Dies, so der Psychologe, müsse den Menschen als nicht optional verkauft werden, sondern als notwendige Maßnahmen, um besser arbeiten zu können. Das gelte übrigens nicht nur für die Spielebranche, sondern für alle Industrien. Speziell in Zeiten von zunehmender, globalisierter Arbeit und permanentem Homeoffice, das die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit immer mehr verschwimmen lässt.

Verbrannte Erde

Die Social- und Community-Managerin Manuela glaubt nicht daran, dass sich an der Ausbeutungskultur etwas ändern wird. Die dazu recherchierten Geschichten würden zu schnell in Vergessenheit geraten. "Das Problem ist, dass die Crunch-Kultur so in der Branche verwurzelt ist, dass es einer wirklich großen Anstrengung bedarf, sie aus dem Alltag zu lösen", sagt sie. Das sei nicht möglich, solange Menschen mit jeder Äußerung zu dem Thema riskieren würden, ihren Job zu verlieren.

Die Macht liege zudem bei denen, die von diesem missbräuchlichen Verhalten profitierten: "Für sie ist es viel einfacher, wegzuschauen und mehr Talente einzustellen, als für diejenigen, die das Verhalten herausfordern, um Dinge zum Positiven zu verändern." (Alexander Amon, 30.3.2022)