Die Pferde stehen am Hafen und schauen die Touristen mit einer Mischung aus "Stell dich nicht so an" und "Du kannst den Job doch eh machen" an. Der Wind pfeift dem Besucher um die Ohren, das Wasser steht mal wieder bis zur Straße. Wer gedacht hat, dass der Urlaub beginnt, sobald man von der Fähre gestiegen ist, der irrt. Erst einmal kommt man ins Schwitzen, wenn man sein Gepäck über die halbe Insel ziehen muss.

Wenn man am Baltrumer Hafen ankommt, warten schon die Pferde auf einen. Ihren Blick kann man verschieden deuten.
Foto: Roman Mensing

Auf der ostfriesischen Insel Baltrum ticken die Uhren etwas anders. Nicht zuletzt, weil die Gemeinde ohne Autoverkehr auskommt. Anders als auf ihren Partnerinseln Borkum oder Norderney dürfen Einheimische sowie Touristen ihre privaten Fahrzeuge nicht mit auf die Insel nehmen, sie müssen am Festland bleiben.

Auf die Insel kommt man, wer hätte das gedacht, mit dem Schiff. Täglich fahren Fähren vom Hafen Neßmersiel, rund 30 Minuten dauert eine Fahrt. Langzeitparken gibt es hinter dem Deich, Kurzzeit parken direkt am Hafen. Grund: Sollte unerwartet eine Sturmflut einrollen, könnte man die parkenden Autos vor dem Deich gleich auf den Schrottplatz bringen.

Auf der Insel angekommen, warten die Wippen auf die anströmenden Touristinnen und Einheimischen. Wippen, das sind etwas größere Bollerwagen, mit denen man sein Gepäck vom Hafen zu seiner Unterkunft bringt. Von der Stange gibt es die Konstruktionen nicht, deswegen hat jede Pension, jedes Haus eine individuelle. "Ich habe damals unsere selbst zusammen geschweißt", sagt Stephan Moschner, Marketingleiter der Insel Baltrum und ehemaliger Pensionsleiter. Am besten sollte man sich am Hafen von seiner Gastgeberin oder Gastgeber abholen lassen. Denn auf Baltrum, das in ein West- und Ostdorf eingeteilt ist, sind die Häuser nicht nach ihrem Aufenthaltsort durchnummeriert – sondern nach der Reihenfolge ihrer Erbauung. Wer also im Westdorf 64 wohnt, kann sich nicht daran orientieren, dass er Westdorf 63 gefunden hat.

Selbst die Post wird hier mit Fahrrad und Anhänger ausgeliefert.

Foto: Baltrum Marketing

Laut Moschner habe man auf Baltrum noch nie über Autos nachgedacht. Warum auch? "Die Strecken sind ja nicht weit. Die größte Ausdehnung des Dorfes beträgt rund zwei Kilometer." Außerdem kommen mit der Zulassung von Autos ganz viele andere Verantwortungen, zum Beispiel: "Wo bekomme ich den Sprit her?" Der Treibstoff für die Ausnahmefahrzeuge kommt in einem großen Kanister per Schiff – und hält dann auch eine gewisse Zeit.

Die Luft frisst alles

So viele Ausnahmen gibt es nämlich nicht. Insgesamt befinden sich auf der Insel vier Fahrzeuge. Die Rettung hat eines und die Feuerwehr drei, aufgeteilt in zwei Löschfahrzeuge und einen Geländewagen. Alle stehen sie in beheizten Hallen, denn "die Salzwasserluft frisst sich durch alles durch", sagt Moschner. Außerdem gebe es regelmäßig Bewegungsfahrten, damit alles stets in einem guten Zustand bleibe.

Die Touristinnen und Touristen schätzen die Autolosigkeit. Immerhin befinden sich an Spitzentagen im Sommer rund 3000 Menschen auf der Insel. Einwohnerinnen und Einwohner gibt es 600. Im ersten Augenblick fällt einem das Fehlen von Motorengeräuschen gar nicht auf. Erst wenn man sich vor Ohren führt, dass man den gesamten Urlaub lediglich den Wind und das Meer gehört hat. Und genau diese Entschleunigung ist es, die man sich auf Baltrum auch behalten will. "Letztes Jahr gab es hier eine Graugans, Helga hieß sie, die war handzahm. Die hat immer vor den Läden gewartet, dass etwas zum Fressen abfällt, und auch gerne mitten auf der Straße ausgeruht. Man kam sich vor wie in Indien, wo die Menschen und Autos um die Rinder auf der Straße einen großen Bogen machen, denn die Kutschen haben auch um Helga einen großen Bogen gemacht", sagt Moschner.

Und wer sein Gepäck zum Ferienhaus zieht, kommt definitiv ins Schwitzen.
Foto: Pollerhof

Immer wieder habe es Hoteliers gegeben, die sich für eine Nutzung von Elektroautos starkgemacht haben. Doch der Gemeinderat lehnte immer ab, die Pferdekutschen, mit denen fast alle Lastenfahrten absolviert werden, sollten weiterhin das Dorfbild schmücken. "Gott sei Dank", sagt Moschner. Und die Pferde, meist Kaltblüter, haben sich als wertvolle Arbeiter bewährt. Sie beliefern die zwei Inselmärkte, die Restaurants, die Einkaufsläden, sogar die Baustellen. "Jeden Stein, jede Tür, jedes Fenster, alles, was hier auf Baltrum verbaut wurde, haben unsere Pferde dorthingezogen."

Baltrum ist so auf den entschleunigten Lebensstil ausgelegt, dass nicht einmal Fahrräder allzu gern gesehen sind. Einen Verleih gibt es nicht. "Wenn man im Sommer im Dorf rumläuft und alle paar Sekunden zur Seite springen muss, weil irgendein Fahrrad klingelt, stört es die Ruhe und die Sicherheit", sagt Moschner. So ist die Anzahl der Drahtesel überschaubar, gekonnte Fahrerinnen und Fahrer spannen die Wippen an ihr Fahrrad und transportieren so ganze Wagenladungen an Koffern, Einkäufen und Müll. Die Müllabfuhr ist übrigens ebenfalls ein Pferdewagen, mit einem riesigen Gitterkasten auf dem Rücken.

Drei Fahrzeuge hat die Feuerwehr insgesamt.
Foto: Baltrum Marketing

Der Verzicht auf das Auto macht erfinderisch. So gab es jahrelang einen VW Bulli auf der Insel – nur ohne Motor. Eine Familie nutzte den umgebauten Bus, mit Pferd vorne dran, um Milch und Käse überall im Dorf an Touristinnen und Einheimische zu verkaufen.

Moschner hofft, dass auf Baltrum niemals Autos zugelassen werden. "Dann bräuchten wir ja auch Verkehrsschilder und -regeln", sagt er und schüttelt den Kopf. Gibt es auf Baltrum keine Verkehrsregeln? "Das wüsste ich jetzt gerade gar nicht. Wenn zwei Fahrradfahrer ineinanderrasseln, weiß man meist, wer der Schussel war. Da gab es noch nie einen Rechtsstreit."

Boßeln ist schwieriger

Und auch die Straßen seien nicht dafür ausgelegt. "Wenn man durch das Dorf geht, sieht man, dass die Straßen rechts und links absacken. Das sind die Spurrillen der Kutschen, bei Autos würden die Straßen komplett versacken." Bestimmte Hauptstraßen sind so befestigt, dass man darüberfahren könnte. Doch auch die sind Moschner ein Dorn im zwinkernden Auge. "Auf der Hauptstraße zum Ostdorf boßeln wir immer", sagt er. Boßeln ist ein Spiel, bei dem man eine Kugel in so wenig Würfen wie möglich über eine festgelegte Strecke werfen muss. "Früher, als die alte Straße noch unbefestigt war, musste man nur eine Spurrinne treffen –und schon rollte die Kugel wunderbar die Straße entlang. Heute, auf der neuen und geraden, muss man wirklich etwas können."

Foto: Baltrum Marketing

Wer nach Baltrum kommt, um Urlaub zu machen, muss sich auf ein ganz anderes Leben einstellen. Alles ist langsamer, alles dauert ein paar Minuten länger. Aber das stört nicht, schließlich wissen hier alle, warum das so ist. Und grüßen derweil freundlich-neutral mit Moin. Auch während man verschwitzt sein Gepäck vom Hafen zieht. (Thorben Pollerhof, 2.4.2022)