Ferne Sichel mit Rekordstern: Earendel ist mit dem weißen Pfeil markiert.
Foto: NASA/ESA/B. Welch (JHU)/D. Coe (STScI)/A. Pagan (STScI)

Seit mehr als 30 Jahren ist das Hubble-Weltraumteleskop schon im Einsatz – und allen technischen Problemen zum Trotz liefert es nach wie vor wertvolle wissenschaftliche Daten. Nun ist Astronominnen und Astronomen mithilfe des altgedienten "Auges im All" wieder einmal ein wahrer Sensationsfund gelungen: Sie identifizierten einen einzelnen Stern in einer Entfernung, die ganze Galaxien mickrig aussehen lässt. Wie das internationale Forschungsteam im Fachblatt "Nature Astronomy" berichtet, ist das Earendel (Morgenstern) getaufte Objekt so weit weg, dass sein Licht 12,9 Milliarden Jahre brauchte, bis es uns erreichte.

Der Stern stammt somit aus einer Zeit, als das Universum noch nicht einmal eine Milliarde Jahre alt war. "Wir konnten es zuerst kaum glauben, denn er war so viel weiter entfernt als der bisher am weitesten entfernte Stern", sagte Brian Welch von der Johns Hopkins University in Baltimore, der Erstautor der Studie. Seine Entstehung so früh nach dem Urknall mache denkbar, dass er sich von den Sternen, die uns heute umgeben, unterscheidet, sagte Welch. "Die Erforschung von Earendel wird ein Fenster zu einer Ära des Universums sein, die wir nicht kennen, die aber zu alldem geführt hat, was wir heute wissen. Es ist, als würden wir ein wirklich interessantes Buch lesen, aber wir haben mit dem zweiten Kapitel begonnen – und jetzt haben wir die Chance zu sehen, wie alles angefangen hat."

Gekrümmte Raumzeit

Möglich wurde die Rekordentdeckung dank eines Phänomens, das Albert Einstein vorhergesagt hat. Aus seiner allgemeinen Relativitätstheorie ergibt sich, dass Masse die Raumzeit krümmt. Dieses universelle Phänomen lässt sich nicht nur eindrucksvoll nachweisen, für Astronominnen und Astronomen ist es sogar ein unverzichtbares Werkzeug – in Form sogenannter Gravitationslinsen. Der Effekt bewirkt, dass sehr massereiche Objekte, die näher am Beobachter liegen, das Licht von weiter entfernten Sternen, Galaxien oder Quasaren verzerren und dadurch verstärken können. Mithilfe solcher Gravitationslinsen können wir Ereignisse des jungen Universums sehen, die uns ansonsten gänzlich verborgen geblieben wären.

NASA Goddard

Genau das ermöglichte nun auch dem Hubble-Teleskop vom Erdorbit aus den Blick auf Earendel. "Normalerweise sehen in diesen Entfernungen ganze Galaxien wie kleine Flecken aus, in denen sich das Licht von Millionen von Sternen vermischt", erklärte Welch. "Die Galaxie, die diesen Stern beherbergt, wurde aber durch Gravitationslinsen vergrößert und zu einer langen Sichel verzerrt." Nähere Untersuchungen dieser Galaxie offenbarten, dass sich darin ein einzelner Stern befindet, der durch den Linseneffekt extrem vergrößert wird. Ein riesiger Galaxienhaufen namens WHL0137-08, der sich zwischen uns und Earendel befindet, wirkt als "Vergrößerungsglas".

Rasante Expansion

Das Forschungsteam schätzt, dass Earendel mindestens die 50-fache Masse unserer Sonne hat und millionenfach heller ist als die größten bekannten Sterne. "Wenn wir in den Kosmos blicken, sehen wir auch in die Vergangenheit. Diese Beobachtungen ermöglichen es uns, die Bausteine einiger der allerersten Galaxien zu verstehen", sagte Victoria Strait vom Cosmic Dawn Center in Kopenhagen, eine Ko-Autorin der Studie. "Als das Licht, das wir von Earendel sehen, ausgesandt wurde, hatte das Universum nur etwa sechs Prozent seines heutigen Alters. Damals war es vier Milliarden Lichtjahre von der Proto-Milchstraße entfernt, aber während der fast 13 Milliarden Jahre, die das Licht brauchte, um uns zu erreichen, hat sich das Universum so ausgedehnt, dass es jetzt erstaunliche 28 Milliarden Lichtjahre sind."

Wie? Eine Entfernung von 28 Milliarden Lichtjahren, wenn das Universum doch "nur" 13,8 Milliarden Jahre alt ist? Das scheinbare Paradoxon ist schnell aufgelöst: Wie wir inzwischen wissen, expandiert das Universum unaufhörlich – und das mit zunehmender Geschwindigkeit. Das Licht, das Hubble von diesem Objekt eingefangen hat, war 12,9 Milliarden Jahre zu uns unterwegs – in dieser Zeit hatte der Raum reichlich Gelegenheit, sich weiter auszudehnen.

Warten auf Webb

Nun wartet das Forschungsteam mit Spannung auf künftige Beobachtungen mit dem James-Webb-Weltraumteleskop, das im Dezember gestartet ist und im Sommer seine wissenschaftliche Arbeit aufnehmen soll. Der Hubble-Nachfolger, der auf Beobachtungen im Infrarotbereich spezialisiert ist, soll noch weiter in die Vergangenheit des Universums zurückschauen. "Mit Webb werden wir vielleicht Sterne sehen, die noch weiter entfernt sind als Earendel, was unglaublich aufregend wäre", sagte Welch. "Ich würde mich freuen, wenn Webb den Entfernungsrekord von Earendel brechen würde." (David Rennert, 31.3.2022)