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Angst statt Ausgelassenheit: Die Pandemie nimmt Kinder und Jugendliche besonders mit.

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Genaue Pläne hatte Amelie für ihren 16. Geburtstag noch nicht, aber die Eckdaten waren klar: "Mit Freundinnen das erste Mal in einen Club, Alkohol trinken und bis Mitternacht unterwegs sein." Ein Jahr später wird sie ihr Zimmer pro Tag nur dreimal verlassen – zweimal aufs Klo, einmal zum Essen. Mehr Appetit hat sie ohnehin nicht. Von der Euphorie des Vorjahres ist wenig übrig: "Jetzt bin ich 17, und der Drang zum Fortgehen ist mir völlig fremd. Das tut weh."

Noel geht es ähnlich. Es ist Herbst 2021, und der 18-Jährige liegt seit über einer Woche im Bett. Zu einschüchternd sind die Angstgefühle in der Welt da draußen. Ein Restaurantbesuch scheint unmöglich: "Ich halte das nicht aus, ich muss hier weg", denkt er, als er an einem Samstagabend mit Freunden in einem Lokal sitzt, und geht nach Hause.

Und auch Paul hat Angst. Das fehlende Sozialleben und die Ungewissheit machten ihm in den letzten zwei Jahren Sorge: "Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich bald sterben werde, obwohl ich rational wusste, dass ich gesund bin."

"Plötzlich hat sich nichts mehr real angefühlt. Ich bin dann eine Woche nur im Bett gelegen, weil ich komplett fertig war." (Noel, 18)

Amelie, Noel und Paul sind drei von vielen Kindern und Jugendlichen, deren psychische Gesundheit unter der Pandemie gelitten hat. Die psychische Belastung von Jugendlichen sei "besorgniserregend", schreiben Forschende in einer Studie, die zeigt: 62 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Burschen weisen eine mittelgradige depressive Symptomatik auf – eine Entwicklung, die man auch beim Wiener Kriseninterventionszentrum beobachtet. Im vergangenen Jahr haben sich rund 20 Prozent mehr Menschen als sonst gemeldet. Es sind vor allem Menschen zwischen 18 und 25, die wegen Ängsten, Depressionen oder Suizidgedanken anrufen.

"Zu glücklich für eine Therapie"

Amelies 16. Geburtstag am 16. März 2020 fällt auf den ersten Tag des bundesweiten Lockdowns. Statt Partys folgen in den kommenden Monaten Distance-Learning, Ungewissheit, geschlossene Clubs und wenige Sozialkontakte. Amelie ist eine gute Schülerin, aber die Arbeitsaufträge in den Lockdowns überforderten sie. Das erste Mal gemerkt, dass etwas nicht stimmt, habe sie im September 2020. Plötzlich schlief sie viel mehr als früher, schließlich googelt sie: "ständige Müdigkeit", "Symptome Depression".

Sie scrollt durch Ratgeber und erkennt sich in Betroffenenberichten wieder. Trotzdem: Sie? Krank? Das konnte doch nicht sein. "Ich kam mir trotz allem noch zu glücklich vor, um eine Therapie zu suchen", erinnert sich Amelie heute. Vermeintlich zu glücklich zu sein sah im Alltag so aus: den Pyjama nicht mehr ausziehen und mit dem Tablet direkt aus dem Bett ins Distance-Learning einloggen, der Weg zum Schreibtisch ist zu anstrengend.

Das schlägt sich in der schulischen Leistung nieder: Der Notendurchschnitt der Klasse sei noch nie so schlecht gewesen wie letztes Semester, habe die Direktorin gemahnt. Wie sollte es auch anders sein, sagt Amelie: "Wir haben den Spaß an der Schule verloren."

Therapie ist teuer

In der Schule wurde nie thematisiert, was die Situation für Jugendliche bedeutet: "Ich hätte mir Infos zu Anlaufstellen und einen offeneren Umgang gewünscht." Die Anlaufstellen sucht sie am Ende selbst. "Psychotherapie Oberösterreich" tippt sie diesmal in die Suchmaschine: "Da bin ich draufgekommen, wie sündhaft teuer das ist!"

In Wien kostet eine Psychotherapiesitzung zwischen 60 und 130 Euro. Einen allgemeinen Anspruch auf eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen gibt es nicht. "Meine Eltern hätten mich bestimmt unterstützt, aber ich wollte ihnen das nicht antun. Das sind ja Ausgaben, die kann man niemandem zumuten!", sagt Amelie.

Vollfinanzierte Psychotherapieplätze sind in Österreich kontingentiert und meist mit einer langen Wartezeit verbunden. Derzeit gibt es für nur ein Prozent der Österreicherinnen und Österreicher krankenkassenfinanzierte Psychotherapie. Alle anderen müssen zahlen – oder warten. Das beginnt schon beim Ansuchen: "Ich hing fünf Stunden in der Warteschleife", erinnert sich Amelie an ihren Anruf im Oktober 2021. Seitdem steht sie auf der Warteliste: "Ich fühle mich verarscht, dass das System nicht mehr schafft als das, um mir zu helfen."

Der Bedarf an Psychotherapie ist in den letzten zwei Jahren deutlich gestiegen – und wird wohl weiterhin steigen: Laut WHO werden im Jahr 2030 drei der fünf schwerwiegendsten Erkrankungen psychische Erkrankungen sein. Die Psychotherapie ist ein wissenschaftlich fundiertes Heilverfahren und wirkt nachweislich, ist aber bis heute nahezu nur jenen vorbehalten, die es sich leisten können.

Zuschüsse bei einer privat finanzierten Psychotherapie sind möglich, die Krankenkassen erstatten dann einen Teil der Kosten. Die Österreichische Gebietskrankenkasse etwa übernimmt knapp 30 Euro pro Sitzung. Voraussetzung dafür ist die Diagnose einer krankheitswertigen Störung. Mit der Initiative #mehrpsychotherapiejetzt fordert der Österreichische Bundesverband für Psychotherapie leistbare Psychotherapie für alle, die es brauchen.

Angstzustände im Lockdown

Noels Familie kann sie sich leisten – zum Glück, denn auf einmal war da diese Angst. Und sie war groß. So groß, dass er nicht mehr klar denken konnte: "Plötzlich hat sich nichts mehr real angefühlt. Ich bin dann eine Woche nur im Bett gelegen, weil ich komplett fertig war", erzählt der 18-Jährige per Videotelefonat.

Noel beschloss, zu einer Psychotherapeutin zu gehen. Sie meinte, dass er überlastet sei, und nannte das, was Noel beschäftigt, "Angstzustände". Noel nennt es einen "kompletten Shutdown im Gehirn". Bei ihm sei alles zusammengekommen: die Schule, die Scheidung seiner Eltern – und dann auch noch Pandemie. "Die achte Klasse ist immer stressig, aber Corona macht es nur noch schlimmer."

"Ich hatte das Gefühl, irgendwas passt mit meinem Körper nicht. Ich hatte Herzstolpern und das Gefühl, dass ich bald sterben werde." (Paul, 17)

Was ihn am meisten stresse, sei die permanente Unsicherheit – Schülerinnen und Schüler hätten sich kaum auf etwas einstellen können. "Oft konnten uns nicht einmal unsere Lehrerinnen und Lehrer sagen, ob wir nächste Woche in der Schule sind oder nicht. Wir wurden von der Politik komplett ausgelassen." Auch das Distance-Learning war für ihn ein Problem. "Klar, es ist besser als gar kein Unterricht. Aber es geht einfach nicht viel weiter." Außerdem belaste ihn die Spaltung der Gesellschaft – vor allem, weil eines seiner Elternteile geimpft und das andere ungeimpft ist.

Noel sagt, dass er längst nicht der Einzige in seiner Klasse sei, bei dem die Luft draußen ist: "Man merkt bei vielen, dass sie überlastet sind, ohne Antrieb, ohne Motivation." Mittlerweile würden einige sogar zu Suchtmitteln greifen, um abschalten zu können.

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Wann wird endlich wieder alles normal?
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Bei einem Blick auf ein mangelndes Versorgungsnetz und auf die Zahlen überrascht das kaum: Laut einer Untersuchung der Medizinischen Universität Wien leiden 55 Prozent der Schülerinnen und Schüler unter depressiven Symptomen. Ein Viertel beklagt Schlafstörungen, und 16 Prozent haben Suizidgedanken. Für die Studie wurden im Vorjahr 3.000 Jugendliche ab 14 Jahren befragt.

Familiäre Unterstützung

Auch Paul ist betroffen. Er entwickelte im Sommer letzten Jahres eine Angststörung: "Sie äußert sich dadurch, dass ich ein bis zwei Tage, manchmal noch länger, in einem Panikzustand war. Ich hatte das Gefühl, irgendwas passt mit meinem Körper nicht. Ich hatte Herzstolpern und das Gefühl, dass ich bald sterben werde." Auslöser war die Herzattacke seines Vaters vor einem Jahr. Mitten in der Nacht hat die Familie den Notarzt gerufen. "Wir wussten drei Tage lang nicht, ob mein Vater das überlebt oder nicht." Seitdem habe er immer wieder den Gedanken, dass auch mit ihm etwas nicht passen könnte, sagt Paul, "obwohl ich rational weiß, dass ich gesund bin".

Die Pandemie habe die Angst weiter verstärkt. Er habe "zum Glück sehr liebevolle Eltern und Großeltern und einen offenen Freundeskreis, in dem es okay ist zu sagen, dass es einem nicht so gut geht", sagt Paul. Mit seiner Therapeutin bespreche er, "wann und wie ich Angst habe und wie ich in welchen Situationen damit umgehen kann". Er weiß: Nicht alle in seiner Klasse haben eine so fürsorgliche Familie – und nicht alle haben Eltern, die sich eine Psychotherapie leisten können.

Amelie wartet indes noch immer auf einen Therapieplatz. Noel, der im Sommer mit Angstzuständen kämpfte, geht es mittlerweile besser. Er achtet jetzt genau auf sich und versucht nicht mehr daran zu denken, was er alles verpasst hat: "Diese Akzeptanz hilft mir." In zwei Monaten macht Noel Matura, "und bis dahin habe ich wirklich nur das im Kopf", sagt er. "Dann freue ich mich auf die Maturareise, das ist so das nächste große Ding. Die ist im Juni, und es geht nach Griechenland." (Lisa Breit, Magdalena Pötsch, 8.4.2022)