Am Donnerstag fand einer der letzten Prozesstage gegen die "Doxa"-Journalisten Armen Aramjan, Natalija Tischkewitsch, Alla Gutnikowa und Wladimir Metjolkin statt.
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Es ist der 14. April 2021. Um 6.30 Uhr klopft es an Armen Aramjans Tür. Gleichzeitig werden auch drei andere Redaktionsmitglieder des russischen Studierendenmagazins "Doxa" unsanft geweckt. An insgesamt sieben Orten in Moskau werden an diesem Tag Hausdurchsuchungen stattfinden. Im Büro des Magazins, in den Wohnungen der jungen Journalisten und teilweise sogar in den Wohnungen ihrer Eltern.

Der Vorwurf: Die vier Studenten hatten im Jänner online ein Video publiziert, in dem sie junge Menschen darin bestärkten, sich nicht einschüchtern zu lassen und ihre Meinungsäußerungsfreiheit zu nutzen. Damit habe "Doxa" die Jugendlichen gefährdet, die das Video angesehen haben und dann mitten in der Covid-19-Pandemie zu Demonstrationen gegangen sind, da sie sich dort hätten infizieren können.

Repression gegen Studierende

Seit April 2021 befindet sich "Doxa"-Chefredakteur Aramjan in einem De-facto-Hausarrest, genauso wie Natalija Tischkewitsch, Wladimir Metjolkin und Alla Gutnikowa. Zwischen acht und zehn Uhr vormittags können die vier sich außerhalb ihrer Wohnung bewegen, ansonsten dürfen sie ihre vier Wände nicht verlassen. Sie dürfen zwar Besuch empfangen, aber weder Internet noch Telefon oder sonstige Kommunikationsmittel verwenden. DER STANDARD konnte Aramjan trotz der Beschränkungen Fragen zukommen lassen und Antworten von ihm erhalten.

"Es ist gar nicht so einfach zu erklären, wie wir an diesen Punkt gekommen sind", erklärt der 24-Jährige heute über die Veröffentlichung des Videos mit dem Titel "Sie werden die Jugend nicht bezwingen". Hintergrund war die Verhaftung des führenden russischen Oppositionellen Alexej Nawalny. Dieser war nach einer überstandenen Vergiftung aus Deutschland zurückgekehrt und sofort von russischen Sicherheitskräften inhaftiert worden. Dagegen formierte sich unter Jugendlichen und Studierenden Widerstand. Das Universitätspersonal versuchte die jungen Menschen davon abzubringen: Neue Veranstaltungen mit Anwesenheitspflicht wurden zur selben Zeit wie die Demonstrationen angesetzt, Studierenden wurde mit Exmatrikulation gedroht.

Eine Minute Freigang

"Doxa" dokumentierte diese Einschüchterungsversuche an dutzenden russischen Universitäten, politische Zensur war für die 2017 gegründete Redaktion schon jahrelang Thema gewesen. Nun entschlossen sich Aramjan und seine Kollegen aber, nicht nur über die Proteste zu berichten, sondern sich aktiv an die Studierenden zu wenden und ihnen Unterstützung auszusprechen. "Wir sagten darin, dass die Studierenden jedes Recht darauf haben, ihre Meinung kundzutun", so Aramjan gegenüber dem STANDARD. Doch die russische Medienbehörde Roskomnadsor sah das Video als gefährdend für Jugendliche an und forderte "Doxa" auf, es zu löschen. "Doxa" leistete der Verpflichtung Folge und löschte das Video unmittelbar. "Wir haben gedacht, das war's", erzählt Aramjan.

Dutzende Male war Aramjan schon vor dem Moskauer Gericht.
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Drei Monate später zeigte sich, dass die Causa für die russischen Behörden aber noch lange nicht vorbei war. Gegen Aramjan, Tischkewitsch, Metjolkin und Gutnikowa wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Von 0 Uhr bis 23.59 Uhr durften sie ihre Wohnung nicht verlassen, ihre Anwälte konnten die Minute später auf zwei Stunden ausdehnen. Über den Sommer wurden sie mehrmals einvernommen, und im Herbst begann der Prozess, in dem in den kommenden Tagen ein Urteil erwartet wird. Ihnen drohen bis zu drei Jahre Haft.

Von der Nische zum Aufdeckermedium

Gegründet wurde "Doxa" von Aramjan und Kolleginnen als Studentenmedium an der Moskauer Wirtschaftshochschule. Es begann als Nischenmedium für Philosophie-Studierende neben vielen anderen Studentenzeitungen. "Wir dachten, wir könnten nicht mit den anderen konkurrieren, aber bald stellten wir fest, dass niemand tut, was wir taten", so Aramjan.

"Doxa" widmete sich der Zensur von politischer Meinungsäußerung an Universitäten, Forderungen nach qualitativ hochwertiger Lehre und nicht zuletzt der systematischen sexuellen Belästigung an bestimmten russischen Hochschulen. Als sie über eine Politikerin im Umfeld der Putin-Partei Einiges Russland berichteten, wurde ihnen der Status als Studentenorganisation 2019 aberkannt, wodurch sie die Räume und das Equipment der Universität nicht mehr verwenden konnten.

Dennoch arbeitete "Doxa" weiter, später stießen auch die drei anderen nunmehr Angeklagten dazu. Aramjan selbst wurde 2020 exmatrikuliert, weil er die notwendigen Leistungen in seinem Studium nicht erbrachte – ein reiner Vorwand, so Aramjan.

Ein Thread auf Aramjans Twitter-Account fasst die Causa zusammen. Der Account wird aufgrund des De-facto-Hausarrests von der "Doxa"-Redaktion geführt, liest man in einem Disclaimer auf dem Account.

Mobilisierung der Zensur

Mit der Zeit setzte sich "Doxa" immer mehr mit Repressionen gegenüber Studierenden auseinander, berichtete über Polizeigewalt und organisierte einen Spendenfonds, um die Geldstrafen für Demonstrierende zu zahlen. Seit Beginn des Krieges habe der Druck aber ein neues Niveau erreicht, schildert Aramjan.

Auch wenn schon 2021 politisch aktive Studenten mit dem Rauswurf bedroht wurden, blieb es meist bei den Drohungen, jetzt aber sehe man eine "100-prozentige Mobilisierung", wie es Aramjan nennt: Dutzende Studierende wurden exmatrikuliert, Universitätsfunktionäre sammeln Karrierepunkte durch harsche Reaktionen auf jegliche kritische Äußerung, und auch die Ausbildung kritischer Journalisten wird eingestampft: Der Studienzweig Politischer Journalismus an der Lomonossow-Universität in Moskau wurde erst vergangene Woche als eigenes Studium aufgelöst und mit den Studienrichtungen Sozialer Journalismus und Lifestyle-Journalismus zusammengeführt.

Flüchten oder aufhören

"Doxa" berichtet dennoch weiterhin über Repression an Unis und auch über den Ukraine-Krieg, den Staatsmedien in Russland bloß als "Spezialoperation" bezeichnen. Auch wenn "Doxas" Website blockiert und nur mehr über VPN zugänglich ist, schreibt "Doxa" als eines der wenigen verbliebenen russischen Medien offen über den Krieg. Jeden Tag verschickt die Redaktion ihren "Antikriegsnewsletter", da solche E-Mail-Verteiler schwerer zu blockieren sind. "Doxa" schreibt darüber, wie junge Menschen mit ihren Eltern über den Krieg sprechen können, und berichtet gleichzeitig offen über die Kämpfe in der Ukraine und die Opfer des Krieges.

Die etwa 30-köpfige Redaktion hat Russland mittlerweile zur Gänze verlassen, in Russland wäre es zu gefährlich für sie. Auch die vier Angeklagten haben deswegen ihre Arbeit niedergelegt. Wenn Aramjan freigesprochen wird, will er Russland auch fürs Erste verlassen, anders sei journalistische Arbeit gar nicht möglich: "Entweder du verlässt das Land, oder du hörst auf."

DOXA

Welche Strafe den vier Angeklagten bevorsteht, ist aber völlig unklar. Zwar drohen bis zu drei Jahre Haft, Aramjans Anwalt rechnete aber lange Zeit mit einer Geldstrafe, weil es keine schwere Straftat ist und alle vier unbescholten sind. Doch auch er ist sich nach den vergangenen Wochen nicht mehr sicher.

Bereits im April 2021 bezeichnete die nunmehr aufgelöste Menschenrechtsorganisation Memorial die vier als politische Gefangene, unabhängige Journalisten, darunter der Chefredakteur der "Nowaja Gaseta", Dmitri Muratow, forderten die Beendigung des Strafverfahrens gegen "Doxa", und auch der slowenische Philosoph Slavoj Žižek ergriff für die jungen Journalistinnen das Wort.

Dass der Prozess politisch motiviert ist, steht für Beobachter fest. Trotz der monatelangen Ermittlungen durch die Behörden und eines mehrere Tausend Seiten starken Akts liest sich dementsprechend die Berichterstattung über den Prozess wie eine Farce. Immer wieder werden Jugendliche als Zeugen vorgeführt, die meist weder etwas von "Doxa" gehört haben, noch das ursprüngliche Video überhaupt gesehen haben, was Aramjan mit einem gewissen Galgenhumor kommentiert: Es sei eigentlich eine Schande für "Doxa", dass offenbar niemand das Video gesehen hat. (Levin Wotke, 1.4.2022)