Viktor Orbán war diese Woche noch auf der Suche nach Stimmen, hier bei einem Auftritt in Békéscsaba.

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Am 16. Juni 1989 wurde in Budapest Imre Nagy feierlich umgebettet, ehemaliger kommunistischer Ministerpräsident und Idol des Volksaufstands 1956 gegen das spätstalinistische Regime. Nagy war 1958 unter seinem Nachfolger János Kádár in einem Geheimprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Seine Wiederbestattung war ein Zugeständnis der geschwächten KP-Führung an den wachsenden Unmut in der Bevölkerung. Mit der Opposition wurde jedoch ein schlichter, pietätvoller Akt ohne politische Akzente vereinbart.

Ein Redner hielt sich nicht daran: der damals 26-jährige Viktor Orbán, der als Mitbegründer des Bundes Junger Demokraten (Fidesz) im Namen der Universitätsjugend sprach. In seiner siebenminütigen Ansprache sagte Orbán: "Wenn wir die Ideen von 1956 nicht aus den Augen verlieren wollen, dann wählen wir eine Regierung, die sofortige Verhandlungen über den Beginn des Abzugs der russischen Truppen aufnimmt."

Eine illiberale Republik

Ein Vierteljahrhundert später sagte Viktor Orbán, nunmehr Regierungschef des EU-Mitgliedslandes Ungarn, in einer Ansprache, der Staat, den seine Regierung baue, sei "kein liberaler Staat, sondern ein illiberaler". Sieger um die beste Staatsform seien "Singapur, China, Indien, Russland, die Türkei". Später kam Orbán immer wieder auf sein Ziel einer "illiberalen Republik" in Ungarn zu sprechen. Wenn er sich an diesem Sonntag erneut den Wählerinnen und Wählern stellt, ist er diesem Ziel schon sehr nahe gekommen.

Wie ist der Wandel Orbáns vom liberalen Europäer zum autoritären Nationalpopulisten und EU-Antipoden erklärbar? György Dalos, Historiker und Osteuropaspezialist, liefert in seinem jüngsten Werk einiges an Verständnishilfe.Das System Orbán – Die autoritäre Verwandlung Ungarns (C. H. Beck) ist eine kompakte Beschreibung und Analyse des von Orbán konsequent betriebenen Umbaus des Landes.

Eiskalter Zyniker

Im Rückblick enthüllt sich ein klarer Plan, dem eine generalstabsmäßige Umsetzung in allen gesellschaftlichen Bereichen folgte: Kultur, Bildungspolitik, Medien, Wirtschaft. Wer sich diesem "System der nationalen Zusammenarbeit" einfügt, wird belohnt und darf sich im "postkommunistischen Mafiastaat" (laut dem Soziologen und liberalen Ex-Politiker Bálint Magyar) bereichern. Wer sich ihm entzieht oder sogar Kritik wagt, wird in den inzwischen weitgehend systemkonformen Medien verächtlich gemacht und muss um seine materielle Existenz bangen, etwa als Kulturschaffender.

Für die ideologische Unterfütterung des Projekts sorgen Intellektuelle wie der Politologe Gábor F. Fodor. In seinem Buch Die Orbán-Regel schreibt Fodor: "Europa ist bedroht, und Orbán ist die Rettungsarmee. Er kommt, um Europa zu erneuern.

Die christliche Kultur, die Nationen, die Familie – das sind unsere Wurzeln, und wenn wir sie austrocknen lassen, geht alles verloren." Fodor schreibt aber auch, in Anspielung auf Orbáns Fußballleidenschaft, es sei "das ganze Fußballspiel die Kunst des Betrugs. Man muss den Gegner überlisten. Dazu muss man ermessen, wie das Spiel auf der Seite des Gegners aussieht, auch mit dem Kopf des Gegners denken können."

Gesinnungsfreund Putin

György Dalos, "Das System Orbán – Die autoritäre Verwandlung Ungarns". 18,– Euro / 224 Seiten. C. H. Beck, München 2022
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Das führt zur Frage, ob Orbáns Sendungsbewusstsein echt ist. Menschen, die ihn näher kennen und inzwischen auf Distanz zu ihm gegangen sind, meinen, er sei ein eiskalter Zyniker der Macht, der allein nach politischer Opportunität vorgehe. Nichts von dem, was er propagiere, glaube er selbst. György Dalos liefert dafür in seinem Buch nur indirekte Hinweise.

Für den Fidesz (inzwischen "Bürgerbund") hätten sich zwei Alternativen angeboten: westlicher Liberalismus und christlich-national gefärbter Konservatismus. Orbán vollzog die Wende zum Nationalpopulismus. Seine Partei war bereits 2002 von der Liberalen Internationale zur Europäischen Volkspartei übergewechselt. 2021 trat Fidesz aus der EVP-Fraktion in EU-Parlament aus und kam damit einer Suspendierung zuvor.

Diese Wende könne man "als Reaktion auf den konservativen Habitus der ungarischen Gesellschaft verstehen – Traditionalismus war eher gefragt und hatte viel mehr Erfolgschancen als freiheitlich ausgerichtete Ideologien", meint Dalos. Eine erstaunliche Einschätzung, angesichts der ungarischen Revolutionen von 1848, 1918 und 1956.

Wie es scheint, will Viktor Orbán die Belastbarkeit dieses "konservativen Habitus" seiner Untertanen bis zum Äußersten ausreizen. Ob der Terrorkrieg seines Gesinnungsfreundes Putin gegen die Ukraine das Belastungslimit bei den Wählern überschritten hat, wird die Wahl an diesem Sonntag zeigen. (Joe Kirchengast, ALBUM, 1.4.2022)