"Der Dritte Mann", gedreht vor 70 Jahren, präsentierte das Nachkriegs-Wien als Drehscheibe der Ost-West-Spionage. In gewisser Weise ist es das bis heute.

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Wiens Kanalisation mag heute noch als Attraktion für Touristinnen und Touristen dienen, die im Urlaub ein wenig Gänsehaut herbeisehnen und sich durch die unterirdischen Gänge führen lassen. Anders als im Genreklassiker Der Dritte Mann, in dem sich 1949 Agenten zu Anton Karas’ ikonischen Zitherklängen Verfolgungsjagden in der weitverzweigten Wiener Unterwelt liefern, müssen sich die Agenten der Gegenwart aber nicht mehr gut verstecken, um an der schönen blauen Donau ihren sinistren Geschäften nachzugehen.

Dass sich vor allem russische Geheimdienste in Österreich mitunter sehr wohlfühlen, hat sich vergangene Woche bis zur für gewöhnlich gut informierten Financial Times durchgesprochen: Österreich sei ein "wahrer Flugzeugträger" für verdeckte russische Aktivitäten in Europa, zitierte das Londoner Medium einen "europäischen Diplomaten". Das Verteidigungsministerium sei "praktisch eine Abteilung des GRU", also des russischen Militärgeheimdienstes, setzte der nach.

Keine Überraschung

Was Laien für übertrieben halten könnten, vermag Beobachter der Szene nicht wirklich zu überraschen. Im Land von Oberst Redl – der K.-u.-k.-Nachrichtenoffizier steckte dem zaristischen Russland Militärgeheimnisse und beging nach seiner Enttarnung 1913 Suizid – tragen Agenten aller Länder spätestens seit der Nachkriegszeit ein Heimspiel aus.

Österreich lebt seit jeher gegenüber fremden Diensten das Florianiprinzip. Spionage ist von Rechts wegen nicht verboten, solange sie österreichischen Interessen nicht zuwiderläuft. Die Russland-Nähe mancher politischen Entscheidungsträger sowie sein unter FPÖ-Ministern desavouierter Geheimdienst ergeben für die russischen Spione ein geradezu ideales Biotop. Aber ist Österreich tatsächlich der "Flugzeugträger" des Kreml für Spionage in Europa?

Ex-Wirecard-Boss Jan Marsalek soll mit Moskau kooperiert haben.
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"Die russischen Aktivitäten in Wien muss man ernst nehmen", sagt Thomas Riegler, ein Geheimdienst-Experte, der am Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPSS) in Graz forscht, zum STANDARD. Fest stehe, dass die Präsenz Moskaus in Österreich überdurchschnittlich groß sei, nicht nur im diplomatischen Sektor, sondern auch unter "non official cover" in diversen Vertretungen – sprich: Agenten von Geheimdiensten jeglicher Provenienz. Insgesamt sollen sich bis zu 7000 ausländische Spione in Wien tummeln, schätzen Fachleute. Wie viele davon im Sold Wladimir Putins stehen, ist nicht bekannt.

Kleinmoskau an der Donau

Ein Indiz dafür, wie groß Moskaus Begehrlichkeiten im kleinen Österreich tatsächlich sind, findet sich im 22. Wiener Gemeindebezirk, der Donaustadt. Ein grüner Metallzaun trennt dort die Schattenwelt der internationalen Spionage von der suburbanen Idylle. Überwachungskameras beobachten die Szenerie auf der vielbefahrenen Erzherzog-Karl-Straße.

Zwischen Einfamilienhäusern und dem Donauspital liegt seit den 1980er-Jahren eine 40.000 Quadratmeter große russische Exklave: Kleinmoskau in Transdanubien. Dort, nahe der Uno-City, ließ die Sowjetunion eine ihrer größten Niederlassungen im Ausland errichten: mehrere Wohnblocks für Angestellte samt Familie, Tennisplätze, Leichtathletikbahnen, ein Fußballfeld, eine Schule und ein Lebensmittelgeschäft, in dem der Rubel rollt.

Dass Moskau ausgerechnet Österreich für so wichtig erachtet, dass es hier eine der weltweit größten sogenannten Legalresidenturen – also einen den heimischen Behörden bekannten Stützpunkt der Geheimdienste – errichtet hat, unterstreicht nach Ansicht des Geheimdienst-Experten Riegler die besondere Bedeutung Wiens für die russische Spionage in Europa. "Ein gewisser Prozentsatz ist sicher für den GRU oder den Auslandsgeheimdienst SWR im Einsatz."

Hierzulande, so lautet die einhellige Diagnose von Fachleuten, setze man dem Moskauer Klotzen bisher höchstens ein Kleckern entgegen. Bisher scheitere es schon am Personal, das Österreich für die Spionageabwehr abkommandiert hat. Vierzig topausgebildete Personen brauche man, um die Abwehr russischer Spionageaktivitäten in Österreich erfolgreich durchführen zu können, sagt einer, der in diesem Bereich gearbeitet hat. Und wie viele hatte der Verfassungsschutz? Vier – wovon zeitweise zwei Personen anderen Einsatzgebieten dienstzugeteilt waren.

Achselzucken und Ignoranz

"Sämtliche Bitten um Hilfe wurden entweder ignoriert, beschwichtigt, mit Achselzucken abgetan (...)", hieß es 2018 in einer Bedarfsmeldung des Referats für Nachrichtendienste und Spionageabwehr. Wenig später wurde der Referatsleiter suspendiert. Gegen ihn wurden Ermittlungen eingeleitet, als Stichwortgeber für die Staatsanwaltschaft hatten die neue FPÖ-Spitze des Hauses und ein der Russland-Spionage verdächtiger Verfassungsschützer fungiert.

Es folgte eine Razzia im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), die das Amt schwer beschädigte – Verurteilungen in der Sache gab es bislang keine. Heute zeigt sich, wie mehrere mit Russland verbundene Personen bei den Ermittlungen mitgemischt haben.

Wie sinnvoll eine funktionierende Spionageabwehr ist, hatte sich erst wenige Jahre zuvor gezeigt. Das BVT spielte eine entscheidende Rolle darin, sogenannte Illegale aufzuspüren: die Familie Anschlag. Wer die Fernsehserie The Americans für reine Fiktion hält, wird durch die Anschlags eines Besseren belehrt. Während sich in der TV-Sendung zwei russische Agenten als US-Ehepaar in einem Vorort von Washington ausgeben, leben die Anschlags tatsächlich in Deutschland – als vermeintlich österreichische Staatsbürger, die in Südamerika geboren wurden.

Seit der FPÖ-Regierungsbeteiligung und der Razzia im BVT unter Innenminister Herbert Kickl gelten die österreichischen Geheimdienste in Europa als kaum vertrauenswürdig. Die türkis-grüne Bundesregierung gelobte zwar Besserung, international wird dies bisher aber nicht konstatiert.
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Mit der komplizierten Herkunftsgeschichte sollte ihr Akzent erklärt werden. Die beiden warben einen niederländischen Diplomaten als Quelle an, er übergab ihnen bis ins Jahr 2011 hochgeheime Nato- und EU-Dokumente. Nach ihrem Auffliegen wurden sie zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Anwerbungen

Auch wenn ein Fall dieser Dimension in Österreich bisher nicht bekannt ist, "bearbeitet" wird das Land trotzdem, wie es im nachrichtendienstlichen Jargon heißt. Während die US-Geheimdienste in den vergangenen Jahren auf elektronische Überwachung umgesattelt haben, arbeiten ihre russischen Kollegen meist weiterhin "klassisch", was die Informationsbeschaffung betrifft.

Mehrere Fälle schlugen in den vergangenen Jahren auf: Bei einem oberösterreichischen Staatsanwalt blieb es beim Anwerbeversuch, tatsächlich rekrutiert wurde ein Mitarbeiter einer IT-Firma, der seine geheime Doppelrolle dann den Behörden gestand. Jahrzehntelang spionierte ein Oberst des Bundesheeres für die Russen, er wurde erst in seiner Pension erwischt und zu drei Jahren Haft verurteilt.

Während auf niedriger Ebene oft ganz klare Deals abgesprochen werden – also Informationen gegen Geld –, laufen Spionagemaßnahmen in der Elite viel diffiziler ab. Dort vermischen sich strategische mit wirtschaftlichen Interessen. So lässt sich argumentieren, dass die österreichische und deutsche Abhängigkeit von russischem Gas aus russischer Sicht wichtiger ist als jede Spionageaktion, die im deutschsprachigen Raum je durchgeführt worden ist.

Die gefangene Elite

Öffentliche Personen werden mit Aufsichtsratsmandaten oder lukrativen Posten in Denkfabriken an Russland gebunden, "Elite Capturing" nennt man diese Methode. In Österreich saßen beispielsweise die Altkanzler Christian Kern (SPÖ) und Wolfgang Schüssel (ÖVP) in Aufsichtsräten russischer Firmen; der frühere Finanzminister Hans Jörg Schelling schlug bei der Errichtungsgesellschaft für die – mittlerweile aufgegebene – Pipeline Nord Stream 2 auf.

Neben Geld und Prestige ist es oft auch politische Sympathie, die Politikerinnen und Politiker oder Beamte nach Moskau führt. So etwa die FPÖ, die einen Freundschaftsvertrag mit der Putin-Partei Einiges Russland abgeschlossen hatte. Unvergessen bleibt auch die Hochzeit der damaligen blauen Außenministerin Karin Kneissl – Tänzchen mit Putin inklusive .

DER STANDARD

Auch im Bundesheer soll es Netzwerke geben, die vor allem ihr Anti-Amerikanismus eint. Die Rede ist von philosophischen Zirkeln auf der Landesverteidigungsakademie, die auch der damalige russische Verteidigungsattaché besucht habe. In eine Falle tappte der damalige Generalstabschef Othmar Commenda, als er sein russisches Gegenüber Waleri Gerassimow in Moskau besuchte.

Das Gespräch wurde heimlich aufgezeichnet, geschnitten und russischen Journalisten vorgespielt. Zu hören war, wie Commenda darüber sprach, dass Russland Österreich "viel näher" sei als andere Großmächte. Gerassimow, der heute den russischen Überfall auf die Ukraine federführend kommandiert, war damals schon auf der US-Sanktionsliste, Commenda wollte sich aber "nicht vorschreiben lassen", mit wem er spreche.

Fall Wirecard

Seither gebe es intern klare Richtlinien, was die Kontakte nach Russland betrifft, sagt ein hochrangiger Militär dem STANDARD. Vor dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine habe sich die Zusammenarbeit mit Russland auf Militärkultur und Militärsport beschränkt, auch im akademischen Bereich gab es Einladungen und Ähnliches. Militärpolitisch wollte man aber nicht anstreifen – schon Österreichs enger Verzahnung mit den EU-Strukturen wegen.

Ungeklärt ist bis heute einer der spektakulärsten mutmaßlichen Spionagefälle dieses Jahrtausends: Die Frage, ob der Wirecard-Vorstand Jan Marsalek ein russisches "Asset" war. Moskau hätte einen der größten deutschen Finanzkonzerne erfolgreich infiltriert. In Österreich besprach Marsalek mit der FPÖ eine Neuaufstellung des Verfassungsschutzes und holte Ex-Agenten in seine Firma.

Vom Verteidigungsministerium ließ er sich ein "Entwicklungshilfeprojekt" in Libyen zahlen, an dem offenbar auch ein russischer Professor beteiligt war. Heute wird Marsalek in Russland vermutet; kurz nach dem Zusammenbruch von Wirecard war er von Niederösterreich aus nach Belarus geflogen. Wie so oft in der Welt der Spionage führen zwar nicht alle, aber doch viele Wege nach Wien.

Dass sich daran seit den Zeiten des Dritten Mann nicht viel geändert hat, weiß auch Leon Panetta, als CIA-Chef Barack Obamas ranghöchster Agent. Als es in Wien-Schwechat 2010 zum größten Agentenaustausch zwischen den USA und Russland seit 1989 kam, gab er zu Protokoll: "Der Kalte Krieg war vorbei, aber die Szene in Wien war der Beweis, dass die alten Spiele munter weitergingen. Alles, was fehlte, war der Klang einer Zither." (Florian Niederndorfer, Fabian Schmid, 3.4.2022)