Ein junger Russe und eine Finnin m Zug: Yuriy Borisov und Heidi Saarla in Juho Kuomanens feinnervigem Film "Abteil Nr. 6".

Foto: Polyfilm

Der Wodka wird gleich am Nachmittag geköpft, Klobasse und saure Gurke liegen daneben, vom Rauchverbot weiß er offenbar nichts. Lyokha (Yuriy Borisov) ist nicht unbedingt jener Reisepartner, den man sich in einem engen Zugabteil wünscht – vor allem, wenn die Route von Moskau ins nördliche Murmansk rund eineinhalb Tage dauert. "Willst du deine Muschi miauen lassen" – so eine Frage des jungen Russen an die finnische Studentin Laura (Heidi Saarla). Da ist er schon merklich angetrunken. Er lallt von seinem Land, das die Nazis besiegt, selbst den Mond erobert hat.

Xenix Film

Abteil Nr. 6, das Trainmovie des finnischen Filmemachers Juho Kuosmanen, 2021 in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, erzählt von einer Begegnung, die anfangs einer einzigen Zumutung gleicht. Doch je länger die Fahrt andauert, desto markanter beginnen sich die zunächst so klaren Zuschreibungen zu verschieben – oft genügt eben nicht nur ein erster, wertender Blick. Gespräche, deren Verlauf bisweilen wie die Bahn ruckelt, der Qualm vieler Zigaretten und verstohlene Beobachtungen vertreiben Lauras Unbehagen, und sie gewinnt ein vielschichtigeres Bild ihres Gegenübers. Die Feindseligkeit des jungen Russen, eines Minenarbeiters, entpuppt sich als machohafter Panzer, hinter dem ein widersprüchlicher, überraschend verletzlicher Charakter zum Vorschein kommt.

Kontext des Kriegs

Kuosmanen, der mit dem Boxerfilm Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki 2016 einen ersten internationalen Erfolg feierte, hat mit Abteil Nr. 6 einen Roman von Rosa Likson eher frei adaptiert. Ursprünglich war die Figur des Russen älter und maliziöser, die Handlung spielt aber immer noch in den frühen 1990er-Jahren, was man an Details wie einem Walkman erkennt. Dennoch ragt nun die Gegenwart in den Film hinein, verschiebt die Kontexte – viel stärker als bei der Premiere im letzten Juli. Der Krieg in der Ukraine hat unsere Wahrnehmung Russlands verändert. Damit ist es auch schwieriger geworden, Kuosmanens wohlwollendes Bild, seinen feinnervigen Brückenschlag unpolitisch zu betrachten. Schwindet hinter der russischen Aggression auch unsere Bereitschaft, kulturelle Nuancen zu sehen?

"Wollte die Figuren nicht durch die Brille ihrer Nationalität betrachten": Der finnische Regisseur Juho Kuosmanen.
Foto: AFP

Kuosmanen glaube das definitiv, sagt er im Interview – etwas verzagt: "Ich fürchte, dass die gegenwärtige Situation der Figur Lyokhas nicht genug Raum gewährt, ihn als Individuum zu sehen. Er wird nur noch als Porträt Russlands betrachtet. Und das ändert alles." Vor dem Krieg habe man in dem Film ein Bild, dann ein anderes gesehen, in der Montage sei ein drittes entstanden: "Jetzt gibt es ein katastrophisches Vorspiel, bevor der Film losgeht. Unser Gehirn stellt von selbst eine Verbindung her." Dennoch stehe das Werk für die Idee der Begegnung mit dem Anderen. "Im Grunde ist das jetzt eine noch stärkere Botschaft", sagt Kuosmanen.

Männer der Arbeiterklasse

Der Ursprung der Geschichte zwischen Laura und Lyokha liegt für ihn im Übrigen nicht in Russland, sondern bei sich selbst. Abteil Nr. 6 erzähle keine romantische Liebesgeschichte, obwohl es "Romantik" und "Liebe" darin gebe, so Kuosmanen lakonisch. Für ihn zielt der Film vor allem auf Wirrnisse der Identität. Der 42-jährige Regisseur kommt aus der Kleinstadt Kokkola, "einem sehr mittelmäßigen Ort", an dem es viele geradlinige, etwas derbe Männer aus der Arbeiterklasse wie Lyokha gebe. "Dort fühle ich mich zu Hause. Dort bin ich die Last los, ein europäischer Filmregisseur zu sein. Das ist ein echter Trost. Es bedeutet aber nicht, dass meine politischen Standpunkte so verengt wären."

Der Film behandelt eine vergleichbare Verschränkung von Identität, die stärker über eine emotionale Nähe zwischen Laura und Lyokha als über ihre Ansichten verläuft. "Sie fühlen sich wohl zusammen, weil sie im Laufe der Fahrt ihre Rollen ablegen können", sagt Kuosmanen. In Russland habe man seinen Film geliebt, irritiert darüber, wie gut ein "Fremder" die russische Seele versteht. Putins Doktrin beruht auch darauf, dass er seinem Volk vermittelt, dass es vom Ausland gehasst wird. "Diese Idee sitzt tief in der russischen Gesellschaft" – so gesehen zeigt Abteil Nr. 6 auf äußerst einnehmende Weise, dass es auch anders geht. (Dominik Kamalzadeh, 2.4.2022)