Heute lebt sie in Berlin: Marie Gamillscheg wandelt auf den Spuren von Ingeborg Bachmann und Christa Wolf.

Foto: Herbert Neubauer

Unter allen möglichen Romanhelden gibt ausgerechnet die Meerwalnuss, eine transparente Quallenart, einen wenig ergiebigen Bösewicht ab. Zwar leuchtet das Meeresungeheuer in den herrlichsten Farben: So versteht sich diese kuriose Lebensform auf Biolumineszenz, das heißt, sie erzeugt selbsttätig bunt schillerndes Licht.

Als Vertreterin der Rippenquallen ist der heimliche Star von Marie Gamillschegs neuem Roman – dem zweiten nach Alles was glänzt (2018) – zum Schrecken der Seefahrt avanciert. Als blinde Passagierin übersiedelte die Meerwalnuss einst via Handelsschifffahrt vom fernen Atlantik hinüber ins Schwarze Meer. In trüben, leergefischten Ozeanen gedeiht sie als anspruchsloser Parasit seither prächtig. Nachhaltige Beziehungen sind mit diesem Tiefseewunder leider keine anzuspinnen. Niemand wüsste das besser als Luise, die Meeresbiologin: Mit defensivem, dennoch aufgekratztem Eifer trägt sie die Botschaft der Meerwalnüsse hinaus in die Konferenzsäle und Forschungsinstitute. Heimlich beneidet sie die aquatischen Räuber um die Unbedenklichkeit, mit der sie Larven und Quallen verputzen.

Die besondere Kunstfertigkeit des Romans Aufruhr der Meerestiere besteht in der schleichenden, zunächst kaum merklichen Perspektivenumkehr. Denn Luise muss um all das, was dem Unterwasserschädling wie selbstverständlich zu Gebote steht, mühsam kämpfen.

Ewiges Scheidungskind

Hart ringt sie vor den Hörern ihrer Vorlesungen um Fassung. Als Endzwanzigerin modelliert Luise, das ewige Scheidungskind, am Idealbild ihrer selbst: dem einer smarten Wissenschaftskraft, die heute hier, morgen in Übersee als Verkäuferin eigener Kompetenz auftritt. Die nebenher ein merkwürdig unterbelichtetes Privatleben managt. Dabei ist es nicht nur der uneingestandene Kampf um väterliche Anerkennung, der an Luises Kräften zehrt. Generell setzt ihr ein Gefühl des Ungenügens zu: Die Empfindung physischer Leere quält sie mit Heißhungerattacken, Neurodermitis macht ihr zu schaffen.

Jene schmerzberuhigten Zonen, in denen die Vertreter der "neuen" Mittelschichten angeblich freudestrahlend ihre Arbeitskraft verwerten, bilden ein Milieu der Angst: Bloß dass die Schreckenslaute verzerrt, wie aus ozeanischen Tiefen, an die Oberfläche dringen. Nicht Luise, die Forscherin, sitzt über die Meerwalnuss zu Gericht. Vielmehr scheint die kollektive Lebensform der Rippenquallen den Maßstab abzugeben, an dem Luise nolens volens ihr eigenes, im Übrigen recht überschaubares Unglück misst.

Aber besitzt die Qualle tatsächlich jene einzige ausschlaggebende Eigenschaft, die sie in den Rang eines (literarischen) Subjekts erheben würde? Vermag sie zwischen sich und ihrer Umgebung zu unterscheiden? An Gamillschegs kluger Erzählstrategie gehen alle geläufigen Parameter einer Ökologie des Zusammenlebens zuschanden.

Da scheint sich mit einem Schlag ein Ausweg aus Luises Schlamassel zu finden. Ein eitler, fernseherprobter Tierparkdirektor plant in Graz die Errichtung einer öffentlich zugänglichen Forschungseinrichtung: Platz für beliebig viele Meerwalnüsse. Zögerlich kehrt die nachgefragte Biologin zurück in ihre Heimatstadt. Sie schlüpft unter in der verwaisten Wohnung ihres Vaters, den sie, ihrer unbewältigten Kindheit wegen, ohnehin andauernd verfehlt.

Luise treibt jetzt wie ein Meeresamphibium durch ein trübes Aquarium: ungläubig die eigene Einsamkeit bedenkend. Gleichzeitig beneidet sie – uneingestanden – die Qualle um ihr kollektives Gedächtnis: Ausweis einer überlegenen Existenz, der einzig an der Erhaltung der eigenen Art gelegen ist.

Marie Gamillschegs Sätze formen die Masse einer in Schwebe befindlichen Daseinsweise: Das zweite Buch dieser famosen 30-jährigen Autorin, die heute in Berlin lebt, gebraucht gelegentlich Anregungen von Ingeborg Bachmann und Christa Wolf. Doch es weist weit darüber hinaus, ins Offene: dorthin, wo keine Hierarchien mehr gelten, kein vorsätzlicher Sinn die Arbeit an der ökologischen Zukunftssicherung behindert. (Ronald Pohl, 4.4.2022)