Der rechtsnationale Ministerpräsident Viktor Orbán.

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Das klare Ergebnis der Parlamentswahl in Ungarn hat selbst Viktor Orbán überrascht. Der Rechtspopulist rechnete zwar mit einem Wahlsieg über die erstmals geschlossen angetretene Opposition. Aber dass seine Fidesz-Partei 54 Prozent der Stimmen einsammeln und eine erneute Zweidrittelmehrheit im Parlament ergattern würde, hatten weder die eigenen noch die unabhängigen Umfrageinstitute kommen sehen.

Die Zweidrittelmehrheit ist der Joker im ungarischen System. Orbán verfügt über sie – mit einer kurzen Unterbrechung – seit 2010. Mit ihrer Hilfe schuf er eine neue Verfassung nach seinen Bedürfnissen, krempelte er das Staatsgefüge zu einem autoritären Hybridsystem um, betonierte er Machtverhältnisse, die nach einem Regierungswechsel ohne Zweidrittelmehrheit der Nachfolger nicht zu ändern sind. Er selbst proklamierte sein System als "illiberale Demokratie".

Das Novum vor dieser Wahl war, dass sich die sechs wichtigsten Oppositionsparteien, unter ihnen linke, grüne, liberale und rechtskonservative Formationen, zu einem Bündnis zusammenschlossen. Mit einer gemeinsamen Liste, gemeinsamen Direktkandidaten und einem gemeinsamen Spitzenkandidaten, dem parteilosen Konservativen Péter Márki-Zay, wollten sie ein paar der Ungleichgewichte wettmachen, die Orbán ins Wahlrecht eingebaut hat.

Momentum

Eindruck machte diese neue Opposition, als sie im vergangenen Herbst ihre Direktkandidaten und den Frontrunner Márki-Zay in vorbildlich organisierten eigenen Vorwahlen ermittelte. 800.000 Menschen hatten daran teilgenommen. So etwas wie ein Momentum entstand.

Dass das sogar Orbán Angst einjagte, zeigte sich darin, dass der Regierungschef in beispielloser Weise und Tempo ganze Universitäten, Staatsgüter, Schlösser und ähnliche Werte in den Besitz dubioser privatrechtlicher Stiftungen überführen ließ. In deren Stiftungsräten sitzen fast ausschließlich handverlesene Fidesz-Kader oder Fidesz-nahe Geschäftsbuddys. Auch nach einem Regierungswechsel hätte Orbán die volle Kontrolle über diese Assets behalten.

Illusion

Doch die Möglichkeit eines Wahlsiegs der Opposition erwies sich als Illusion. In der Wahlnacht rätselten die ungarischen Experten darüber, wohin die ganzen Oppositionswähler "verschwunden" sind. Die Ungarn sind halt zufrieden, dank weltwirtschaftlicher Konjunktur und fetter EU-Förderungen ging es ihnen seit zehn Jahren recht gut, meinten die einen. Andere verwiesen auf die Widersprüchlichkeit, dass die früher rechtsradikale Jobbik-Partei Teil eines links-grün-liberalen Bündnisses wurde.

Die neue Jobbik-Führung mag sich ja aufrichtig in Richtung Rechtskonservativismus gewandelt haben – allein, ihre Wähler folgten ihr nicht, sondern wanderten zum Fidesz oder zur offen rechtsradikalen Jobbik-Abspaltung Unsere Heimat (Mi Hazánk). Die schaffte jetzt mit sechs Prozent auf Anhieb den Sprung ins Parlament. Sie geriert sich als Opposition. Doch in ihrer Rechtsradikalität und ihrer Anhänglichkeit an den Kreml-Herrn Wladimir Putin unterscheidet sie sich kaum von der Fidesz-Partei. Zählt man die Stimmen zusammen, die bei vergangenen Wahlen auf den Fidesz und die alte Jobbik entfielen, kommt man bei dieser Wahl in Hinblick auf die Summe von Fidesz- und Unsere-Heimat-Stimmen auf ein recht ähnliches Ergebnis.

Vergiftetes Klima

Dass die Abwahl Orbáns eine Illusion bleiben muss, hat aber tiefere Gründe. In den zwölf Jahren seiner Herrschaft hat der Rechtspopulist nicht nur den Staat umgekrempelt, sondern auch die Dominanz über die Diskursräume erlangt, bestimmt er die Spielregeln gesellschaftlicher Interaktionen. Autoritäres Gehabe der Mächtigen bis ins letzte Dorf, Käuflichkeit von Loyalitäten, menschenfeindliche Hetze gegen bestimmte Gruppen, die permanente Produktion von Feindbildern haben das gesellschaftspolitische Klima in Ungarn nachhaltig verändert – und vergiftet. Kritische Haltungen und Alternativen können sich nur in begrenzten Bubbles entwickeln und entfalten. Manchmal entsteht dann in diesen oft sympathisch anmutenden Blasen die Illusion, dass man es schaffen könne. Doch in Wirklichkeit bleibt die Gesellschaft in der Endlosschleife des Systems Orbán gefangen. (Gregor Mayer, 4.4.2022)