Kaum eine andere Stadt wurde im Ukraine-Krieg derart in Mitleidenschaft gezogen, wie das im Südosten der Ukraine am Asowschen Meer gelegene Mariupol. Praktisch seit Kriegsbeginn wird das Industriezentrum, in dem einst 450.000 Menschen wohnten, unnachgiebig von der russischen Armee mit Raketen und Artillerie beschossen. Laut nicht verifizierten ukrainischen Angaben sind mittlerweile 90 Prozent der Gebäude der Stadt beschädigt oder zerstört worden. Drohnenaufnahmen wecken Erinnerungen an das Vorgehen Russlands in Grosny oder vor wenigen Jahren im syrischen Aleppo.

Über 100.000 Bewohner sollen immer noch unter zunehmend prekären Bedingungen festsitzen, die ukrainische Armee verteidigt weiterhin das innere Stadtgebiet. Die Versorgung mit Strom und Gas zum Heizen ist schon vor längerer Zeit zusammengebrochen. Auch Lebensmittel sind Mangelware geworden. Versuche, Zivilisten über vereinbarte Korridore zu evakuieren oder Hilfsgüter in die Stadt zu bringen, sind bislang großteils gescheitert.

Ein Drohnenflug über Mariupol gegen Ende März.
Guardian News

Leuchtturm im Kommunikations-Blackout

Die Zerstörung hat mittlerweile auch für eine Informationsblockade gesorgt. Der Betreiber Kyivstar war die letzte Möglichkeit für die Bewohner Mariupols, Kontakt nach außen aufzunehmen und Informationen über die Lage im Rest des Landes zu erhalten. Bis Mitte März kämpften Angestellte darum, den Dienst aufrechtzuerhalten. Dann ging auch der letzte Funkturm endgültig vom Netz.

Kyivstar ist der größte Mobilfunkanbieter der Ukraine und hatte laut neueren Zahlen rund 26 Millionen Kunden. Sein Netz deckte 99 Prozent des Landes ab. Das Unternehmen gehört zum Konzern Veon (vormals Vimpelcom). Dieser gehört zu 47,9 Prozent der Investmentfirma LetterOne, hinter der der russische Oligarch Mikhail Fridman steht. Dieser trat Anfang März infolge der EU-Sanktionen von seinem Aufsichtsratsposten bei Veon zurück. Mitgründer war die norwegische Telenor, die 2019 allerdings ihre letzten Anteile an Veon veräußerte.

Wired erzählt die Geschichte, wie die Angestellten des Unternehmens noch bis Mitte März täglich das Risiko auf sich nahmen, zumindest für kurze Zeit das örtliche Netz in Betrieb zu nehmen. Dabei konnten sie über die Systeme ihres regionalen Büros beobachten, wie zunehmend mehr der 148 dort angebundenen Funkmasten infolge von Zerstörung oder der Unterbrechung der Stromversorgung ausfielen. Andere Anbieter waren zu diesem Zeitpunkt bereits komplett außer Betrieb.

Die Mariupoler Zentrale von Kyivstar vor dem Krieg.
Foto: Screenshot/Google Street View

Seit Anfang März war überhaupt nur noch eine Funkzelle in Mariupol "online", nämlich jene auf dem Kyivstar-Office in der Budiwel'nykiw-Allee. Das zog immer wieder zahlreiche Menschen in die Gegend, die auf der Suche nach besserem Empfang waren. Wichtig war diese Verbindung etwa für Nick Osytschenko, Chef des regionalen TV-Senders Mariupolske TV, der sich bis zu seiner Flucht am 15. März jeden Tag seinen Weg in den zehnten Stock seines Wohnhauses bahnte, um Empfang zu bekommen.

Er nutzte die Verbindung, um Fotos und Videos der Stadt zu verschicken und Familie und Freunden zu zeigen, dass er noch lebte. Zudem sichtete er die Meldungslage über Nachrichtenwebsites und Telegram-Kanäle, um andere Menschen im Haus, deren Geräte keinen Strom mehr hatten, mit Informationen zu versorgen. "Die Stadt verfügt über keine Informationen, die Menschen haben kein Internet, Fernsehen oder mobilen Empfang", schildert er die Lage. "Sie wissen nicht, was im Land oder auf der Welt passiert. Sie wissen nichts. Sie wissen nur, dass sie und ihre Kinder leben wollen."

Per Dieselgenerator ins Netz

Die Versorgung durch den letzten Funkturm der Stadt war freilich nicht 24 Stunden pro Tag möglich. Er wurde von den Mitarbeitern manuell mithilfe eines Dieselgenerators in Betrieb genommen. Die Verbindung war, auch aufgrund des Andrangs, oft lückenhaft und langsam, aber eben für viele Menschen die letzte Option, Kontakt über die Grenzen ihrer Nachbarschaft hinaus herzustellen.

Das Office des Telekom-Konzerns befindet sich in der Budiwel'nykiw-Allee zwischen einem Supermarkt und einem griechischen Kulturzentrum.

Schließlich setzte am 21. März Artilleriebeschuss auf das Gebäude von Kyivstar auch dieser Möglichkeit ein Ende, dokumentiert Forbes. Angestellte nahmen vor ihrer Flucht noch Fotos der großteils zerstörten Büros auf. Diese zeigen ein von Trümmern übersätes, unzugänglich gemachtes Erdgeschoß. Laut Wolodymyr Lutschenko, Technikchef von Kyivstar, sind die Techniker, die den letzten Funkturm in Betrieb gehalten haben – Stand: 25. März – noch am Leben.

Kommunikationsinfrastruktur als bevorzugtes Ziel

Russlands Armee beschießt Kommunikationsinfrastruktur wie Mobilfunkmasten und Fernsehtürme gezielt. Mariupol ist auch nicht die einzige ukrainische Stadt, in der die elektronische Kommunikation de facto lahmgelegt ist. Das dezentralisierte Kabelnetz macht die Internetinfrastruktur zwar insgesamt recht resilient, gegen physische Zerstörung und Stromausfälle ist aber auch sie nicht gewappnet.

Das Büro von Kyivstar, nachdem es Ziel eines russischen Angriffs geworden war.
Foto: Kyivstar/Wired

Die Unterbrechung des Informationsflusses in und aus Kampfgebieten erschwert der ukrainischen Armee den Abwehrkampf sowie die Dokumentation von Kriegsverbrechen und die Koordination und Kommunikation von Evakuierungsmaßnahmen. Allerdings dürfte das Vorgehen auch für die russische Armee selbst ein Problem darstellen. Denn deren verschlüsseltes Funksystem Era benötigt 3G- und 4G-Anbindung.

Neben mangelhafter Ausstattung der Soldaten und Fahrzeuge könnte dies ein Grund dafür sein, warum russische Einheiten immer wieder über unverschlüsselte Verbindungen kommunizieren, die von ukrainischen Militärs, Geheimdienstlern und teilweise auch von Funkamateuren abgehört werden. (gpi, 4.4.22)

Update 5.4., 8:20 Uhr: Informationen zur Muttergesellschaft von Kyivstar berichtigt. Diese heißt mittlerweile Veon, die norwegische Telenor ist seit 2019 nicht mehr beteiligt.