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Europa ist stark abhängig von russischen Gaslieferungen. Mittelfristig wird nach Alternativen gesucht, kurzfristig wäre ein Boykott mit schwer kalkulierbaren Auswirkungen verbunden.

Foto: reuters / dado ruvic

Seit Bilder von hunderten getöteten Zivilisten die Runde machen, die in Butscha, einem Vorort von Kiew, nach Abzug russischer Truppen gefunden wurden, wird der Ruf nach noch härteren Sanktionen gegen Russland lauter. Dazu zählt auch ein Boykott von Öl- und Gaslieferungen.

Frage: Könnte ein Importstopp für Öl und Gas den Krieg in der Ukraine stoppen?

Antwort: Es würde der russischen Wirtschaft zweifellos einen noch stärkeren Schaden zufügen, als dies ohnehin durch die bisherigen Sanktionen schon geschieht. Russland dürfte nach Schätzungen von Ökonomen heuer rund zehn Prozent an Wirtschaftsleistung einbüßen, mit einem Energieboykott entsprechend mehr. Der Krieg würde durch diese Maßnahme wohl nicht enden, weil sich Wladimir Putin und seine Entourage offenbar seit geraumer Zeit darauf vorbereitet haben und die russische Bevölkerung Leid gewohnt ist.

Frage: Was würde Putin mehr schaden – kein Gas mehr exportieren können oder kein Öl?

Antwort: Rohöl ist für Russland als Devisenbringer um einiges wichtiger als Gas. Zuletzt war rund ein Drittel der russischen Exporterlöse auf Rohölverkäufe im Ausland zurückzuführen. Gas steht hingegen für sechs bis sieben Prozent der Exporteinnahmen Russlands.

Frage: Könnte Russland bei einem Wegbrechen europäischer Abnehmer Öl und Gas außerhalb Europas vermarkten?

Antwort: Öl ja, und Russland macht das auch. Anders als der Gasmarkt sind die Ölmärkte global; Indien hat bereits bekundet, mehr russisches Öl zu kaufen, nachdem europäische und auch US-amerikanische Abnehmer in einer Art vorausschauendem Gehorsam russisches Öl selbst bei Zusicherung von Preisabschlägen nicht nehmen wollten. Bei Gas ist es schwieriger; die Pipelines von den Gasfeldern in Westsibirien enden in Europa. Dieses Gas kann beispielsweise nicht nach China verkauft werden, weil es keine Pipeline dorthin gibt. China bezieht Gas aus Russland über eine eigene Leitung aus ostsibirischen Feldern.

Frage: Könnte Österreich auf russisches Öl oder Gas verzichten?

Antwort: Auf russisches Öl verzichten ginge. 2020 stammten knapp zehn Prozent des hierzulande verarbeiteten Rohöls aus Russland. Größter Lieferant war Kasachstan (36,6 Prozent), gefolgt vom Irak (15 Prozent). Bei Gas ist es komplizierter, zumal Österreich zu 80 Prozent von Russland abhängt. Mittelfristig können alternative Mengen nach Österreich gebracht werden – mehr Pipelinegas aus Norwegen beispielsweise oder Flüssiggas (LNG) aus den USA und Katar, wobei erhebliche Investitionen in die Infrastruktur notwendig sind. Kurzfristig ist ein kompletter Ersatz nicht möglich, auch weil die Speicher fast leer sind.

Frage: Wie steht Österreich zu einem Boykott von russischem Gas?

Antwort: Türkis-Grün spricht sich zwar für weitere Sanktionen aus, ein Gaslieferstopp sei jedoch keine Option. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) formuliert es so: Ein Gasboykott komme nicht infrage, weil das so sei, als ob "man sich ins linke und rechte Bein gleichzeitig schießen würde". Gemeint ist, dass Österreich so sehr von russischem Gas abhängig ist, dass ein Gasstopp gravierende Auswirkungen hätte. "Es ist keine Frage des Wollens, es gibt auf die Schnelle einfach keine Alternative für Österreich zum russischen Gas", heißt es auf Nachfrage im Bundeskanzleramt. Derzeit heizen etwa 900.000 Haushalte in Österreich mit Gas, 600.000 allein in Wien. "Wir haben immer gesagt bei Sanktionen, dass sie diejenigen treffen sollen, auf die man abzielt, und nicht auf uns zurückfallen sollen als Bumerang", sagte Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) am Montag. Auch Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) bekräftigte sein Nein zu einem Gasboykott.

Frage: Sehen das die Grünen auch so?

Antwort: Im Grunde schon. Umwelt- und Energieministerin Leonore Gewessler zeigt sich skeptisch, was einen völligen Verzicht auf Gas aus Russland betrifft. "Jetzt geht es darum, alles zu tun, damit wir unabhängig werden von russischen Importen und, das steht hinter dem Konflikt, von fossilen Energien insgesamt", sagte Gewessler. Brüssel habe einen Rahmen vorgeschlagen – die Abhängigkeit von Russland soll bis 2027 reduziert werden. "Das wird nur in einem starken Schulterschluss gehen", sagte Gewessler. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) forderte zeitgleich einen unverzüglichen Zugang für das Uno-Menschenrechtsbüro, um die Beweissicherung in Butscha aufzunehmen: "Diese Dinge gehören vor entsprechenden Gerichtshöfen abgeklärt. Das Zweite ist natürlich, dass die Sanktionspakete jetzt noch einmal massiv verschärft werden."

Frage: Wie würde sich ein Gasimportstopp wirtschaftlich auf Österreich auswirken?

Antwort: Laut einer Kalkulation des Ökonomen Christian Helmenstein für die Industriellenvereinigung würde ein Embargo für Energie und Rohstoffe 3,3 Prozent Wirtschaftsleistung bis Ende des Jahres kosten. Sollte es so kommen, würde Österreichs Wirtschaft eingerechnet bereits beschlossener Sanktionen gegen Russland stagnieren. Experten zweifeln allerdings daran, ob sich ein Stopp der Gasimporte überhaupt modellieren lässt.

Frage: Wo liegt der Haken?

Antwort: Zwar ist bei jeder Branche bekannt, wie viel Energie sie insgesamt braucht, aber die Abhängigkeiten der einzelnen Betriebe sind sehr unterschiedlich und unbekannt. Für manche Firmen würde ein Gaslieferstopp nur bedeuten, dass sie etwas weniger produzieren können, andere könnten zwischenzeitlich gar nichts mehr herstellen, sagt der Chef des Forschungsinstituts Wifo, Gabriel Felbermayr.

Frage: Was ist noch zu bedenken?

Antwort: Ein Komplettausfall großer Betriebe, die andere Industriezweige mit ihren Waren versorgen, würde eine Kettenreaktion auslösen. Die Effekte wären auch in anderen Branchen stark. Aber die zentrale Frage, wie viele Unternehmen von einem Totalausfall der Produktion betroffen wären, wenn kein Gas kommt, kann kein Modell vorhersagen. "In ökonomischen Modellen lässt sich ein Rückgang der Gasimporte gut abbilden, aber nicht ein Totalstopp", sagt Harald Oberhofer von der Wirtschaftsuni Wien.

Frage: Was planen andere Länder?

Antwort: Die baltischen Staaten planen nicht nur, sie haben schon gehandelt. Seit 1. April kaufen Estland, Lettland und Litauen kein russisches Gas mehr. Sie versuchen mit Gas aus ihren Speichern durchzukommen und setzen darüber hinaus auf Flüssiggas, das sie in einem lettischen Terminal anlanden können. Italien, das zu 40 Prozent von russischem Gas abhängt, will bis in den Sommer hinein die Hälfte davon durch andere Quellen ersetzen — durch mehr Pipelinegas aus Algerien und Aserbaidschan, aber auch zusätzliche Flüssiggasmengen. Auch Deutschland will die Abhängigkeit von Energieimporten drastisch reduzieren. Bei Öl will man bis Jahresende auf null kommen, bei Gas will man in etwa zwei Jahren so weit sein. Und Österreich? Fahrplan für den Ausstieg gibt es keinen, lediglich das Bekenntnis, die Abhängigkeit reduzieren und irgendwann ganz aussteigen zu wollen. (Günther Strobl, Andras Szigetvári, Katharina Mittelstaedt, 5.4.2022)