Sandwina, die stärkste Frau der Welt, hieß mit bürgerlichem Namen Katharina Brumbach (1884–1952).

Foto: Bundesarchiv Berlin

Ein Plakat von Katie Sandwina alias The Lady Hercules war auch in der Ausstellung "Die tollkühnen Frauen" im Frauenmuseum Hittisau zu sehen.

Foto: Library of Congress, Washington

Starke Frauen in der Welt des Zirkus gab es schon, da kannte unser schönes Land noch lange kein Frauenwahlrecht. 1891 hieß "Die stärkste Frau der Welt" Athleta, sie war Belgierin und trug vier Männer auf einmal, wenn ihr fad war, jonglierte sie mit 20 Kilo schweren Eisenkugeln. Ab den 1910er-Jahren zerriss Sandwina Ketten, wie es später Anthony Quinn als Zampanò in La Strada machte, und legte sich mit einem 200 Kilo schweren Amboss am Bauch rücklings auf ein Nagelbett, drei Männer durften mit Schmiedehämmern auf das Eisen dreschen, während sie wohl gelangweilt ans Nägelfeilen dachte. Und was Mut und Todesverachtung anging: Bereits 1876 überquerte Maria Spelterini als erste Frau auf einem Seil die Niagarafälle, für die 330 Meter lange Strecke brauchte sie läppische elf Minuten, die Augen hatte sie dabei verbunden. Weil auch ihr das alles zu langweilig war, ging sie später noch einmal mit unförmigen Körben an ihren Füßen ein paar Mal am Seil hin und her.

"Der Zirkus", sagt Ruth Schleicher, Lehrgangsleiterin der Wiener Zirkusakademie, "war immer auch ein Ort für die Selbstverwirklichung von Frauen. Sie waren die Avantgarde, mutig, goschert – und immer sichtbar." Das will sie bei den Zirkusspaziergängen im Mai mehr ins Bewusstsein rücken.
Foto: Robert Newald

An ihrer selbstbewussten Do-it-yourself-Mentalität hätte sich die Wienerin Rosa Eisenmann ein Beispiel nehmen sollen, als sie sich, damals 16-jährig, auf die Schultern ihres Vaters setzte, bevor dieser 1949 gegen einen Schilling Eintritt vor 2.000 Zuschauern auf einem Drahtseil den Wiener Donaukanal Richtung Urania querte. Wenige Meter vor dem Ziel verlor er das Gleichgewicht und riss seine Tochter mit in den Tod. Sehr zum Entsetzen auch von Regisseur Peter Patzak, der damals als kleiner Bub das Spektakel verfolgte.

Gefördert und gestärkt

Ein immer noch gutes Verhältnis hingegen pflegt Ruth Schleicher, 42 und Lehrgangsleiterin der Zirkusakademie Wien, zu ihrem Vater Tilmann, der Stärke und Selbstentfaltung bei seiner Tochter nicht nur zuließ, sondern förderte. Nach ihrer Geburt war er nicht zufrieden mit der heimischen Bewegungskultur abseits des Wettkampfturnens, also fing er an, mit ihr zusammen und den beiden Geschwistern Bewegungslandschaften zu bauen. In der spanischen Kinderrepublik Benposta holte er sich dafür weitere Anregungen. Die hatte ein Pfarrer gegründet, der die Utopie eines selbstbestimmten Lebens auch für Straßenkinder hatte, mit Wahl des eigenen Bürgermeisters. Von dort kam Tilmann Schleicher 1991 mit der Idee für einen eigenen Circus Kaos zurück – "Circus" sollte für die romantische Tradition stehen und "Kaos" für den "ersten Zustand der Welt", aus dem Neues erwachsen kann. Auch starke Frauen.

Vater Tilmann förderte die Stärke und Selbstentfaltung seiner Tochter Ruth Schleicher.
Foto: Robert Newald

Von Anfang an stärkte der Vater den Wunsch der Tochter, sich einzubringen: "Wir malten Einladungen und Bühnenbilder, zeichnete Graffitis auf Straßen oder komponierten Musik. Es sollte nicht um Leistung und Wettkampf gehen, sondern um Bewegung als Ausdruck und Entfaltungsmöglichkeit. Darum, sich aufeinander verlassen zu müssen." Zuerst waren es drei Keulen und ein Einrad, bald kam ein Brasilianer mit dem Vertikaltuch dazu. Mittlerweile sind sie einer der ältesten Kinder- und Jugendzirkusse der Welt, mit Ruth als künstlerischer Leiterin und 450 bis 500 Kindern und Jugendlichen, die sich für die Welt des Zirkus begeistern.

Wenige Auftrittsmöglichkeiten

Doch längst gebe es nicht mehr genug Auftrittsmöglichkeiten für alle, die es in die Welt des Zirkus dränge, sagt Schleicher, die selbst – oft mit ihrem Einrad – als Performerin oder mit Walking Acts bei Stadtfesten auftritt. Der Zirkus gehe immer mehr in Richtung Rhythmische Sportgymnastik oder Geräteturnen, Anforderungen, die viele bald in einen Brotberuf wechseln ließen. "Und ab einem gewissen Alter ist man dann sowieso weg", lacht sie. "Das Risiko willst du dir auch nicht ewig antun."

Der Zirkus geht immer mehr in Richtung Rhythmische Sportgymnastik oder Geräteturnen, meint Ruth Schleicher.
Foto: Robert Newald

"Natürlich", erzählt Schleicher, "waren im 18. Jahrhundert auch im Zirkus die Rollenbilder tradiert, und so wie die Roma lebten auch die Zirkusleute am Rande der Gesellschaft." Ihr Gewerbe war in Österreich dem Rotlichtmilieu zugeordnet, und um dieses schummrige Licht kreisten "Kolossalmenschen, Liliputaner, Albinos oder Siamesische Zwillinge", die dort einerseits in den Freak- und Sideshows ausgestellt und benutzt wurden, andererseits aber auch sozialen Anschluss und ein warmes Essen fanden.

Die Ausgrenzung dieser Milieus ermöglichte es auch, Neues zu probieren, "und so fanden viele Frauen im Zirkus eine Welt, in der sie sich selbst verwirklichen konnten. Zu einer Zeit, als der Begriff im zivilen Leben noch längst keine Rolle spielte." So zeigte Miss Senide in der Schaubude ihrer Mutter im Wiener Prater erste Raubtierdressuren, und Frauen als "Freaks" gab es natürlich auch: Die ohne Beine geborene Vorarlbergerin Antonia Matt wurde zur berühmtesten "Half Lady" der Welt, während "Die Tätowierte Frau" Nora Hildebrant, eine Deutsche, gerne erzählte, dass sie in Amerika von Sitting Bull entführt und an einen Baum gefesselt von ihm jeden Tag tätowiert worden sei. Am ganzen Körper!

"Frauen fanden im Zirkus eine Welt, in der sie sich selbst verwirklichen konnten – zu einer Zeit, als der Begriff im zivilen Leben noch keine Rolle spielte", sagt Schleicher.
Foto: Robert Newald

"Genau wie die Zauberei mit Illusion arbeitet, arbeiteten auch viele Frauen mit erfundenen Geschichten", erzählt Schleicher, auch in Wien, wo der Zirkus ab Mitte des 19. Jahrhunderts seine Blüte erlangte. Alleine im Prater gab es vier feststehende Zirkusgebäude plus die herumziehenden. Bis hinaus zum Lusthaus, am Heumarkt oder auf der Schmelz gab es Gastspiele. Und in der heutigen Zirkusgasse im 2. Bezirk stand das Gebäude des berühmten Circus Renz, der sich in den 30er-Jahren zum Renz Varieté wandelte, um in den Jahren nach dem Krieg als Nachtclub unter anderen Josephine Baker eine Bühne zu bieten. 2004 freilich schloss das Renz als heruntergekommenes Puff für immer die Pforten und stand damit auch sinnbildlich für den Niedergang einer jahrhundertealten Tradition.

Feministischer Zirkus

Ruth Schleicher gefällt die feministische Leseart des Zirkus gerade in Zeiten von Corona, wo Frauen "wieder versteckt werden. Die Frauen des Zirkus aber ließen sich buchstäblich nie in ein Korsett zwängen, sie waren immer Avantgarde und lebten in der Manege ihre Möglichkeiten, waren geschickt oder anmutig, mutig oder einfach nur goschert. Immer aber zumindest sichtbar." Darum wird sie im Mai während der Veranstaltung "Circus Fragmente" zusammen mit dem Circus Kaos und der Zirkusakademie einen Spaziergang zu vergessenen Orten des Zirkus unternehmen und diese neu bespielen, von der Venediger Au durch das Stuwerviertel Richtung Admiralwiese. "Es geht immer um Ermächtigung und Bestärkung", sagt sie. "Aber auch um die Widersprüchlichkeiten und Schattenseiten der schillernden Zirkuswelten, die zwischen ungleichen Geschlechterverhältnissen und Rollenklischees, Schaulust und Romantisierung changieren." (Manfred Rebhandl, 6.4.2022)