Der Politikwissenschafter Sven Bernhard Gareis analysiert im Gastblog Deutschlands militärische Mittel.

Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat die europäische, wenn nicht sogar die globale Sicherheitsordnung grundlegend und langfristig verändert. Mit seinem Versuch, durch die Unterwerfung souveräner Staaten eine imperiale Macht- und Einflusssphäre zu etablieren, sehen sich EU und Nato gemeinsam mit ihren Partnern im postsowjetischen Raum existenziellen Bedrohungen ihrer Freiheit und territorialen Unversehrtheit durch eine kriegerische Eroberungspolitik ausgesetzt. Diese Bedrohungen waren in ihren Konturen allerspätestens mit Russlands Aggression in der Ukraine 2014 erkennbar, sie wurden in vielen westlichen Hauptstädten lange verdrängt – und sie sind nun brutale Realität geworden.

Krieg und Gewalt sind in einem Ausmaß in die Mitte Europas zurückgekehrt, wie dies seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr vorstellbar erschien. EU und Nato stehen mithin vor der Herausforderung, ihre Verteidigungsfähigkeit sowie die Unterstützung ihrer Partner schnell und entschlossen zu verstärken. Gefragt sind daher alle Mitgliedstaaten – und in besonderer Weise Deutschland.

Hohe Erwartungen in EU und Nato

Deutschland, dem nach Wirtschaftskraft und Bevölkerung stärksten Land der EU, wird bei der Ausgestaltung dieser neuen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zweifellos eine wichtige Rolle zufallen. Dies wird Land und Gesellschaft deutliche Anpassungen seiner der strategischen Kultur abverlangen – also jenes dauerhaften, fest im kollektiven Bewusstsein einer Nation verwurzelten Sets an Normen, Werten und Handlungsmaximen, welche ihre Selbstwahrnehmung und ihr internationales Verhalten prägen.1

In seiner historischen Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz angesichts dieser "Zeitenwende" nicht nur an die Seite der Ukraine gestellt und umfangreiche Waffenlieferungen zu deren Selbstverteidigung zugesagt. Er erklärte vielmehr auch, dass Putin nicht Deutschlands Entschlossenheit unterschätzen sollte, "gemeinsam mit unseren Alliierten jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes zu verteidigen", um dann fortzufahren: "Was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht wird, das wird getan. Deutschland wird dazu seinen solidarischen Beitrag leisten. Das heute klar und unmissverständlich festzuhalten, reicht aber nicht aus; denn dafür braucht die Bundeswehr neue, starke Fähigkeiten."

Um diese Fähigkeiten aufzubauen, wird im Bundeshaushalt 2022 ein "Sondervermögen Bundeswehr" in Höhe von 100 Milliarden Euro geschaffen, das auch dazu beiträgt, dass der Bund "von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren"2 und damit seinen Verpflichtungen im Nato-Rahmen erfüllen kann. Auch die größte Oppositionsfraktion CDU/CSU stellte sich grundsätzlich hinter diese Regierungslinie.

Deutschland muss liefern

Scholz' Rede wurde bei Deutschlands Verbündeten und Partnern in Brüssel mit großer Zustimmung und auch Erleichterung aufgenommen. Gleiches gilt für erste Entscheidungen wie die zum Kauf von US-amerikanischen Kampfflugzeugen F-35 als Nachfolger des längst überalterten Tornado-Systems zur Aufrechterhaltung der "nuklearen Teilhabe" Deutschlands oder die längerfristige Festschreibung des Verteidigungshaushalts auf jährlich mehr als 50 Milliarden Euro.3 Deutschlands Beiträge zur gemeinsamen Sicherheit wurden in vielen Hauptstädten bereits seit längerem als zu gering sowie den politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes nicht angemessen betrachtet. Gerade Polen oder die baltischen Staaten blickten mit kaum verhohlenem Argwohn auf das Pipeline-Projekt Nord Stream 2, an welchem die Bundesregierungen Merkel und Scholz ebenso festhielten wie an einer Art besonderer Beziehung zu Russland und Wladimir Putin. Auch jetzt tut sich die Bundesregierung noch schwer, gänzlich mit dem russischen Präsidenten zu brechen und ein Embargo für Gas und Öl mitzutragen.

Auf der Sondersitzung des Bundestages haben Kanzler und Parlament in EU und Nato hohe Erwartungen hinsichtlich einer neuen sicherheits- und verteidigungspolitischen Rolle Deutschlands geweckt. Deutschland muss nun aber auch liefern, wenn es nicht weiteren Schaden an seiner Verlässlichkeit und Reputation nehmen will.

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100 Milliarden Euro will die deutsche Regierung in die Bundeswehr investieren.
Foto: REUTERS/Lisi Niesner

Herausforderungen für Deutschland

Dies wird jedoch nicht einfach. Mit seinem Versprechen stellt Scholz eine deutliche Kurskorrektur im auswärtigen Verhalten Deutschlands in den Raum. Zwar werden politisch-diplomatische Ansätze zur Krisen- und Konfliktbewältigung auch weiterhin eindeutigen Vorrang haben, die militärische Dimension gewinnt aber an Gewicht. Ein solcher Schwenk kann indes nicht durch eine noch so beeindruckende Rede vollzogen werden, sondern bedarf breiter Akzeptanz in der Gesellschaft – und nicht zuletzt auch einer einsatzbereiten Bundeswehr.

Die strategische Kultur Deutschlands ist die einer Zivilmacht, in der Konzepte wie militärische Effektivität oder Kampfbereitschaft keinen hohen Stellenwert einnehmen. Es herrscht die Überzeugung vor, dass sich Konflikte grundsätzlich durch Interessenausgleich und Kompromisse beilegen lassen. Seit Deutschland in den frühen 1990er-Jahren begann, sich an Einsätzen im Rahmen von Uno, Nato und EU zu beteiligen, achten alle Bundesregierungen darauf, diese als nicht zu militärisch, also nicht zu kämpferisch auszugestalten.4 Wenn Deutschland jetzt auf eine erhebliche Verstärkung seiner militärischen Fähigkeiten zusteuert, wird es auch die Bedingungen und Grundsätze für deren möglichen Einsatz klären müssen. Dies gilt umso mehr als mit den Kapazitäten auch klare Erwartungen insbesondere der kleineren Verbündeten und Partner nach Leistungsbereitschaft und vor allem Führung durch Deutschland einhergehen werden.

Wird Deutschland diesen Ansprüchen gerecht werden können? Gegen die Vorstellungen des Bundeskanzlers haben sich rasch Kritiker zu Wort gemeldet, die vor einer Militarisierung der deutschen Außenpolitik warnen.5 Die Grundorientierungen der strategischen Kultur eines Landes ändern sich nur sehr langsam – oder sehr schnell, wenn es zu plötzlich zu massiven Veränderungen der nationalen oder internationalen Rahmenbedingungen kommt. Ob die russische Aggression gegen die Ukraine ein solcher Gamechanger ist, werden die Entwicklungen der kommenden Wochen, Monate und Jahre zeigen. Was es jetzt und in der nächsten Zukunft bedarf, ist eine entschiedene politische Führung, die klarstellt, dass die Fähigkeit zu Verteidigung und Abschreckung keine Abkehr von der weiterhin friedensorientierten Politik Deutschlands, Europas und der Nato ist. Außenministerin Annalena Baerbock etwa vertritt diesen Ansatz in der öffentlichen Debatte sehr überzeugend.

Bequeme pazifistische Grundstimmung

Aber auch für die Bundeswehr geht es um mehr als nur die Erhöhung ihres Budgets. Immerhin verfügt sie bereits 2022 mit mehr als 50 Milliarden Euro über etwas größere Mittel als etwa Frankreich mit 48 Milliarden Euro – das jedoch neben einer sehr teuren Nuklearbewaffnung auch noch ungleich einsatzfähigere Streitkräfte bereithält. Deutschland wird daher neben einem rascheren und effektiveren Beschaffungswesen auch die Strukturen und die Führungsgrundsätze seiner Bundeswehr überdenken müssen.

Tatsächlich haben sich die deutschen Streitkräfte in den vergangenen Jahrzehnten auch recht bequem in der pazifistischen Grundstimmung des Landes eingerichtet. Zwar wurde immer deutlich und zurecht ein "Kaputtsparen" der Bundeswehr beklagt. Ob aber alles versucht wurde, angesichts des politisch gewollten Kostendrucks noch gewisse Standards an militärischer Effektivität aufrechtzuerhalten, kann durchaus hinterfragt werden. Mit jedem Reform-, Transformations- oder Neuausrichtungsschritt wuchs die Zahl der Organisationsbereiche, Hauptquartiere und Führungsstäbe – alle auch ausgestattet mit ansehnlichen Karrieremöglichkeiten. Die kleinste Bundeswehr der Geschichte hat ihre höchste Führungsdichte.

Mit der Zersplitterung der Führungsstrukturen in derzeit sechs Organisationsbereichen wuchsen auch die Partikularinteressen der jeweiligen Inspekteure sowie die bürokratischen Verfahren bei der Abstimmung gemeinsamer Unternehmungen. Die Aufstellung von Kräften für einen Auslandseinsatz oder für die VJTF (Very High Readiness Joint Task Force), die schnelle Einsatztruppe der Nato, belastet stets die gesamte Bundeswehr, deren Verbände in der Grundstruktur dann über noch weniger Mittel verfügen können. War dieses "Baukastensystem" schon für die Bereitstellung der Einsatzkontingente wenig effizient, ist es für eine Verteidigungsarmee vollständig ungeeignet. Deren Kräfte müssen im Fall der Fälle auf Abruf verfügbar sein.

Die Vollausstattung der Bundeswehr mit der erforderlichen Ausrüstung, die Aufrechterhaltung der Einsatzbereitschaft bei Personal und Gerät sowie schließlich logistische Fragen wie die Bevorratung von Munition und Ersatzteilen sollten die erste Priorität des Neuaufbaus der deutschen Streitkräfte sein. Eine Struktur und Führungskultur, in welcher der Zugriff auf die wesentlichen personellen und materiellen Ressourcen wieder in den Händen der für die Auftragsdurchführung Verantwortlichen liegen, könnte ein Leitgedanke für die Entwicklung der Bundeswehr zu einer modernen Armee sein, die zur Verteidigung und zu internationalen Einsätzen befähigt ist.6

Ein Motor europäischer Verteidigung?

Die nun wirklich unübersehbare militärische Bedrohung des freien Europa ist vielleicht der letzte Weckruf für die Entwicklung hin zu einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion, in der die Mitgliedstaaten auch in militärischen und rüstungstechnischen Fragen enger zusammenarbeiten, ihre Streitkräfte häufiger miteinander üben und schließlich auch gemeinsam handeln, etwa mit einer schnell verfügbaren europäischen Eingreiftruppe. Zwar bleibt die Nato der vorrangige Akteur auf dem Gebiet der gemeinsamen Verteidigung – auf ihre europäischen Mitglieder wie auch auf die bündnisfreien EU-Staaten Österreich, Finnland, Irland und Schweden werden aber neue Aufgaben zukommen. Der "Strategische Kompass", den der Rat der EU am 21. März 2022 gebilligt hat, weist in genau diese Richtung.7

In diesen Prozess könnten auch die anstehenden Veränderungen in der deutschen Sicherheits- und Verteidigung eng eingebunden werden, was neben vielen praktischen Vorteilen auch zur Verringerung möglicher Sorgen vor einem militärisch erstarkten Deutschland beitragen würde. Es könnten die Abstimmungen über die von den einzelnen Mitgliedstaaten bereitzustellenden Fähigkeiten enger koordiniert und dann etwa im Rahmen des deutschen Framework Nation-Konzepts (ein Staat stellt die militärische Grundausstattung, kleinere Staaten bringen Spezialfähigkeiten ein), zum Einsatz gebracht werden. Gemeinsame Rüstungs- und Beschaffungsprojekte könnten die Fleckenteppiche militärischer Ausstattungen verringern, Synergien hervorbringen und schließlich Kosten sparen.

Vor allem aber wäre eine verstärkte Kooperation auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein Ausdruck der Solidarität unter den Mitgliedstaaten (wie auch mit ihren assoziierten Partnern) und damit ein wesentlicher Beitrag zur Resilienz der Union gegenüber den manifesten und latenten Bedrohungen, die derzeit und wohl bis aufs Weitere von Russland ausgehen.

Weder Deutschland noch die EU würden dadurch zu bedrohlichen Militärmächten, sondern würden ihre zivilen Instrumentarien um eine wirksame Verteidigungsfähigkeit ergänzen. Der russische Überfall auf die Ukraine zeigt sehr deutlich, dass diplomatische Mittel allein nicht immer ausreichen, um Krieg und Gewaltanwendung zu verhindern. Auch Demokratien müssen wehrhaft sein, um Leben, Freiheit und Wohlstand ihrer Bürger und den Fortbestand ihrer Politik- und Gesellschaftsordnungen zu schützen. In diesem Verständnis könnte eine neue deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik im engen Zusammenspiel mit Frankreich, Polen, Italien und vielen weiteren Staaten zu einem neuen integrierenden Motor europäischer Sicherheit werden. (Sven Bernhard Gareis, 11.4.2022)