Rund 50.000 Flüchtlinge aus der Ukraine wollen fürs Erste in Österreich bleiben.

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Wien – Der Exodus aus der Ukraine ist anders als alle vergleichbaren Flucht- und Migrationsbewegungen, die Österreich bis dato erlebt hat. Die meisten, die kommen, sind Frauen mit Kindern, und sie bringen viele ältere weibliche Angehörige mit. Wie lange sie die Zuflucht in Österreich benötigen, ist unklar – alles Faktoren, die laut dem Soziologen und Politikberater Kenan Güngör ein tiefgehendes integrationspolitisches Umdenken nötig machen. Diesbezügliche Überlegungen stünden jedoch erst ganz am Anfang.

STANDARD: Aus der Ukraine sind bis dato überwiegend Frauen mit Kindern nach Österreich geflohen. Die Frauen haben Arbeitsmarktzugang – und es gibt viele Firmen, die Arbeitskräfte suchen. Das hört sich nach einer Win-win-Situation an. Ist es das wirklich?

Güngör: Nicht unbedingt, denn entscheidend wird hier die Kinderbetreuung sein. Wenn die nicht funktioniert, wird die Arbeitsmarktbeteiligung der Ukrainerinnen geringer ausfallen. Es muss genug Kindergärten und Ganztagsschulen geben. Die Frauen sind im Schnitt ja weit qualifizierter als die Flüchtlinge, die 2015 und 2016 nach Österreich kamen.

STANDARD: Tatsächlich? In welchen Berufen sind Ukrainerinnen besonders gut ausgebildet?

Güngör: Vor allen in technischen Sparten, denn technische Bildung von Frauen ist in der Ukraine verbreiteter als bei uns. Überhaupt ist die weibliche Teilhabe am Arbeitsmarkt dort viel höher und die durchschnittliche Kinderzahl niedriger.

STANDARD: Bei der Kinderbetreuung liegt in Österreich einiges im Argen. Wie soll das für die Ukrainerinnen klappen?

Güngör: Viel davon wird sich im Hotspot Wien abspielen. Die ukrainische Fluchtbewegung ist besonders im Osten Österreichs stark und nimmt nach Westen hin ab. In städtischen Räumen ist sie viel stärker als auf dem Land – und in den Städten ist die Kinderbetreuung meist besser. Aber natürlich gibt es gerade im Kindergarten einen massiven Mangel an Pädagogen. Daher sollte man unter den Geflüchteten Pädagoginnen und Lehrer rekrutieren und hier rasch in den Arbeitsprozess bringen. So wie das zum Beispiel in Wien jetzt ohnehin schon gestartet ist.

STANDARD: Um Lehrerinnen anstellen zu können, müssen sie Deutsch können, das ist eine gesetzliche Vorgabe. Ganz rasch werden sie das nicht lernen können. Was tun?

Güngör: Hinter dieser Frage steckt das grundsätzliche Problem, dass wir nicht wissen, wie lange die Ukraine-Vertriebenen hierbleiben und daher unbedingt Deutsch lernen sollten. Der Krieg kann einen Monat, kriegsähnliche Zustände können über Jahre dauern. Sollte der Krieg bald enden, dürfte der Großteil der geflohenen Frauen zurückkehren, ihre Männer, Väter sind ja dort. Wenn nicht, werden sie gezwungen sein, in der EU bleiben, und irgendwann kämen auch die Männer nach. Wir wissen aus der Migrationsforschung, dass nur zehn bis 15 Prozent der Kriegsflüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren, wenn Krieg, Verelendung und Armut länger dauern.

STANDARD: Wie geht man mit einer solchen Unwägbarkeit integrationspolitisch gut um?

Güngör: Indem man in realistischen zwei bis drei Szenarien denkt und entsprechende Strategien entwickelt. Ich habe den Eindruck, wir gehen aufgrund vergangener Migrationserfahrungen zu stark davon aus, dass die Ukraine-Flüchtlinge dauerhaft bleiben werden. Wenn aber Menschen schnell zurückkehren möchten, sollten wir sie nicht zu irgendwelchen Deutschkursen nötigen. Auf der anderen Seite dürfen wir den Fehler aus der Gastarbeitermigration nicht wiederholen, in der man dachte, sie würden ohnehin nicht bleiben – und man daher keine Integrationspolitik, sondern eine Rückkehrpolitik betrieb. Die Ungewissheit, wie es weitergeht, ist für die längerfristige Politikplanung derzeit aber ein großes Problem.

STANDARD: Heißt das, man muss sich auf alle Eventualitäten vorbereiten?

Güngör: Genau. Wir brauchen neben Aufnahmekompetenz, wo es um die Primärversorgung der Geflüchteten geht, so etwas wie eine temporäre Integrationspolitik mit Bleibeperspektive, die sowohl für einen zeitlich begrenzten wie auch einen dauerhaften Aufenthalt anschlussfähig ist. Wir müssen die Dinge beschleunigen, wenn es darum geht, den Leuten Unterkünfte zu geben, müssen dafür sorgen, dass sie Zuversicht schöpfen und ausreichend Unterstützung haben. Zugleich müssen wir aber unser Vorgehen auch entschleunigen und die Leute nicht sofort auf den Arbeitsmarkt und in Deutschkurse drängen. Sie sind gerade erst angekommen und in einer prekären Ausnahmesituation. Sie wissen nicht, wie es mit ihnen, ihren Nächsten und ihrem Land weitergeht. Sie brauchen etwas Zeit, um das zu verarbeiten. Wir sollten sie nicht sofort in eine Integrationsmaschinerie hineinzwängen.

STANDARD: Genug Angebote muss es jedoch auf alle Fälle geben. Was sind die größten Herausforderungen?

Güngör: Einerseits das Wohnen. Ich glaube, dass wir über die vorhandene Struktur von Grundversorgung und privaten Unterkünften jene Flüchtlinge versorgen können, die jetzt schon da sind. Aber diese Ressourcen können rasch enden, insbesondere wenn die Zahl der Geflüchteten um ein Vielfaches steigt. In einem zweiten Schritt sollten wir schon jetzt beginnen, temporären Wohnraum zu schaffen, etwa in Gestalt von Containersiedlungen. Dann hätten wir eine Zwischenlösung, auch wenn die Flüchtlinge mittelfristig wieder zurückkehren können.

STANDARD: Was schlagen Sie in Sachen Schule vor?

Güngör: Auch hier sollten wir nicht linear denken, sondern Übergangslösungen ermöglichen. Aus der Ukraine kommen Stimmen, dass die Kinder nach dem ukrainischen Lehrprogramm unterrichtet werden sollen, um gut anknüpfen zu können, wenn sie zurückkehren. Von daher halte ich für die allererste Phase nach der Ankunft Sonderklassen für ukrainische Kinder für gar nicht so schlecht. Hier könnten sie Stabilität und Vertrautheit erleben, sich zurechtfinden, sich austauschen – und dann langsam in Mischklassen wechseln. Man könnte zum Teil auch das Schul-Curriculum aus der Ukraine für die ukrainischen Kinder übernehmen und dafür sorgen, dass sie dazu auch Deutsch lernen.

"Wir brauchen Flexibilität und Öffnung" im Umgang mit den Kriegsvertriebenen, sagt Kenan Güngör.
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STANDARD: So viel Anpassungsfähigkeit ist eine Herausforderung für das österreichische Schulsystem. Auch in anderen Bereichen herrschen Hürden vor, man denke an die 110-Euro-Zuverdienstgrenze in der Grundversorgung, die Arbeitsaufnahme sehr erschwert. Wie soll sich das verändern?

Güngör: Hier geht es um Flexibilität und auch Öffnung, und das weist auf ein allgemeines Problem hin. Wir haben in Bezug auf Flüchtlinge, vor allem seit der großen Fluchtbewegung 2015/2016, eine sehr restriktive Flüchtlingspolitik. Es geht darum, so wenige Geflüchtete wie möglich ins Land zu lassen und ihre Lebensverhältnisse hier so unattraktiv zu machen, dass möglichst wenige nachkommen. Wer dennoch bleibt, muss sich so rasch wie möglich integrieren. Angesichts der großen Anteilnahme an dem Leid in der Ukraine sowie aufgrund des Umstands, dass sich die Ukraine-Flüchtlinge auf Basis der EU-Massenzustromrichtlinie in der gesamte Union frei bewegen und arbeiten dürfen sowie sozial abgesichert sind, passen die strengen Regeln nicht mehr. Wie wir das in Österreich pragmatisch lösen und ob das Auswirkungen auf die politische Kultur im Umgang mit Flüchtlingen hat, wird sich zeigen. In der Tat könnte die Ukraine-Fluchtbewegung hier zu einem Veränderungsprozess führen.

STANDARD Wie soll das gelingen? Die FPÖ hat nach dem Vorbild von 2015/16 bereits eine Anti-Ukrainer-Kampagne gestartet – Stichwort Parkplatzprobleme wegen SUVs reicher Ukrainer.

Güngör: Die aktuelle Situation hat mit der großen Fluchtbewegung 2015/16 sowohl Ähnlichkeiten, weist aber auch starke Unterschiede auf. Vor sieben Jahren war die Stimmung gegenüber den Flüchtlingen höchst ambivalent, jetzt werden die Ukrainerinnen willkommen geheißen. 2015/16 wollte man den Geflüchteten einerseits helfen, andererseits hatte man die Sorge, dass sie religiös-kulturell oder weltanschaulich nicht zu Österreich passen würden. Das waren zum Teil berechtigte Fragen und Sorgen, zum Teil wurden sie aber auch politisch massiv aufgebauscht und instrumentalisiert.

STANDARD: Sehen Sie diese Gefahr jetzt nicht?

Güngör: Diese Dinge fallen meines Erachtens jetzt weitgehend aus. Was aber bleibt, ist die Frage, wie viele Flüchtlinge noch kommen werden. Das weist auf einen zentralen sozialpsychologischen Aspekt hin. Es gibt einen Moment in der Hilfsbereitschaft, an dem man sich überfordert fühlen kann. Dann besteht Gefahr, dass nicht nur die Motivation sinkt, sondern auch die Stimmung kippt. Wenn nicht 50.000, sondern, sagen wir, 300.000 Menschen aus der Ukraine nach Österreich kommen, wäre die Debatte weit zugespitzter. (Irene Brickner, 7.4.2022)