Bisher lag die ganze schwere Last auf den Schultern von Sergej Kyslyzja, wenn es darum ging, die Interessen der Ukraine im Uno-Sicherheitsrat wahrzunehmen. Und der Botschafter des von Russland attackierten Landes tat dies bisher sehr gut und wortgewaltig – vor allem dann, wenn er sich im Tischkreis direkt an Russlands Vertreter Wassili Nebensja wandte. Am Dienstag bekam Kyslyzja aber endlich Schützenhilfe: Wolodymyr Selenskyj, der Staatspräsident selbst, wurde per Video aus Kiew ins Headquarter der Vereinten Nationen in New York zugeschaltet und berichtete sehr konzentriert von offenkundigen Kriegsverbrechen in seinem Land.

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Wolodymyr Selenskyj rechnete vor der Uno mit Russland ab – und kritisierte auch den Sicherheitsrat.
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Im Zuge seiner Ausführungen kritisierte Selenskyj aber auch die Uno selbst: Die internationale Gemeinschaft bleibe zu passiv, schaue weitgehend untätig zu, statt sich gemäß der eigenen Satzung für die Schaffung und den Erhalt von Frieden einzusetzen. Was in der Ukraine, vor allem in Butscha, Irpin und Borodjanka, geschehe, gehöre zu den schlimmsten Verbrechen an Zivilisten seit dem Zweiten Weltkrieg. Glücklicherweise fehle es nicht an Beweisen für die zahlreichen Kriegsverbrechen der russischen Armee an der ukrainischen Zivilbevölkerung.

DER STANDARD

"Sie zerstören alles", warnte Selenskyj, der auch die Architektur des Uno-Sicherheitsrats kritisierte, wo Russland ein Vetorecht besitzt. Viele Tragödien in der jüngeren Geschichte hätten verhindert werden können, wenn der Sicherheitsrat einen anderen Spielraum hätte, so Selenskyj.

"Die Zeit wird kommen ..."

Den Auftritt vor dem Sicherheitsrat wollte Selenskyj erklärtermaßen auch dafür nutzen, sich direkt an die russische Bevölkerung zu wenden. Am Montagabend hatte er in einer seiner täglichen TV-Ansprachen an das ukrainische Volk versprochen: "Die Zeit wird kommen, wenn jeder Russe die ganze Wahrheit darüber erfährt, welcher von ihren Landsleuten getötet hat. Wer die Befehle gegeben hat."

Russlands UN-Botschafter Nebensja konterte die Anschuldigungen mit der Beteuerung, russische Truppen hätten es nicht auf Zivilisten abgesehen. Die Anschuldigungen seien Lügen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow behauptete laut der Nachrichtenagentur Ria, der Westen wolle die "Hysterie über Butscha" nutzen, um Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew zu torpedieren. Die Anschuldigungen seien eine "monströse Fälschung".

Doch die vorliegenden Beweise wiegen schwer: Hochauflösende Satellitenbilder des privaten US-Unternehmens Maxar Technologies zeigten schon vor Wochen Leichen auf den Straßen. Sie widerlegen Moskaus Vorwurf, die "angeblichen" Toten seien bloß Teil einer ukrainischen bzw. westlichen "Inszenierung" oder "Provokation".

Nicht zuletzt auf der Basis dieser Erkenntnisse forderte US-Präsident Joe Biden ein Sondertribunal gegen die russischen Verantwortungsträger. Washington kündigte auch an, bei der Uno-Vollversammlung einen Antrag auf Suspendierung Russlands vom Uno-Menschenrechtsrat stellen zu wollen. Dort besitzt Moskau – im Gegensatz zum Sicherheitsrat – kein Vetorecht, ein Beschluss kann bei wichtigen Fragen mit Zweidrittelmehrheit gefasst werden, weil dort jeder Staat nach dem Prinzip der souveränen Gleichheit über eine Stimme verfügt.

Ursula von der Leyen und Josep Borrell reisen sehr bald nach Kiew – Bundeskanzler Karl Nehammer auch.
Foto: Stephanie LECOCQ / POOL / AFP

Neue Sanktionen erwartet

Am Dienstag kündigten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Außenbeauftragter Josep Borrell an, noch diese Woche nach Kiew zu reisen, um sich dort mit Selenskyj zu treffen. Eine weitere, die fünfte EU-Sanktionsrunde könnte bereits am Mittwoch beschlossen werden, verlautete derweil aus der französischen Regierung. Schwerpunkte diesmal: Importstopp für Kohle, Exportverbot für Halbleiter. Vor allem Letzteres sollte ein harter Schlag für die russische Rüstungsindustrie sein.

Auch die USA wollen am Mittwoch ein neues Sanktionspaket verkünden und dabei "jegliche neue Investition" in Russland verbieten. Geplant sind zudem schärfere Sanktionen für Finanzinstitutionen und staatliche Unternehmen in Russland sowie neue Maßnahmen gegen russische Regierungsvertreter und deren Familien, wie am Dienstag aus informierten Kreisen verlautete. Die Sanktionen werden demnach in Abstimmung mit der EU und den anderen G7-Staaten verhängt.

Bereits Mitte März – unter damals militärisch durchaus riskanteren Rahmenbedingungen – waren die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien nach Kiew gereist, um Moskau auf diese Weise Solidarität mit der Ukraine zu zeigen.

Auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) wird "in den nächsten Tagen" in Kiew mit Selenskyj zusammentreffen – das bestätigte am Dienstag sein Sprecher dem STANDARD. Ein genaues Datum war vorerst nicht zu erfahren. Ziel sei es, die Ukraine bestmöglich humanitär und politisch zu unterstützen, so das Bundeskanzleramt.

Ausweisung von Diplomaten

Die Regierungen Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Spaniens, Dänemarks und Schwedens weisen unterdessen dutzende Diplomatinnen und Diplomaten als "unerwünschte Personen" aus. Das seien Reaktionen auf die Gefährdung der inneren Sicherheit bzw. auf den Verdacht von Spionage.

Österreich zieht bei diesem Prozedere nicht mit. Nach Auskunft einer Sprecherin von Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) orientiert sich die Regierung an dem seit den 1960er-Jahren gültigen Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (Diplomatenkonvention): Wer sich nichts zuschulden kommen lasse, werde auch nicht ausgewiesen. Für die Zukunft seien aber Ausweisungen nicht auszuschließen. Grundlage für eine solche Entscheidung müsse aber sein, dass es Belege der Nachrichtendienste für ungesetzliches, sicherheitsgefährdendes Verhalten einzelner diplomatischer Personen gebe. Prinzipiell werde man sich mit Brüssel abstimmen, man wolle in dieser Angelegenheit keinen Alleingang hinlegen.

ORF

Genau diese nationalen Alleingänge kritisierte Schallenberg am Dienstagabend in der "ZiB 2": "Ich finde es bedauerlich, dass hier jeder Staat einzeln agiert." Er räumte ein, dass die frühere europäische Politik gegenüber Kreml-Chef Wladimir Putin "rückblickend vielleicht (...) naiv" gewesen sei, aber "zum damaligen Zeitpunkt war diese Politik die richtige", so Schallenberg. "Wir haben ihn alle falsch eingeschätzt. Hätten wir ihn richtig eingeschätzt in der Europäischen Union, hätten wir ganz anders agiert." (Gianluca Wallisch, red, 5.4.2022)