Manche Menschen mit übermäßig großem Gehirn (Makrozephalie), Lernschwierigkeiten oder mit Autismus-Spektrum-Störungen haben Veränderungen in einem Gen namens CHD8. Diese Mutationen bringen die Nervenzellenproduktion durcheinander, fanden nun Forschende des IST Austria mithilfe menschlicher Minigehirne heraus. Sie bewirken auch vermehrtes Hirnwachstum, und Organoide mit CHD8-Veränderungen waren in den Laborversuchen größer als mit intaktem Gen, berichten sie im Fachjournal "Cell Reports".

Mehrere hundert Gene werden mit Autismus-Spektrum-Störungen in Verbindung gebracht. Einige Patientinnen und Patienten sind nur leicht betroffen, während andere schwere Behinderungen aufweisen. Zusätzlich zu den charakteristischen Symptomen wie Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion und der Kommunikation mit anderen Menschen sowie repetitiv-stereotypen Verhaltensweisen, haben Betroffene mit Mutationen des Gens CHD8 häufig auch geistige Behinderungen und Makrozephalie – ein ungewöhnlich großes Gehirn. Wie CHD8 diese Symptome verursacht, war lange Zeit unklar.

Künstliche Gehirne

CHD8-Mutationen beeinträchtigen das Gehirn in einem sehr frühen Stadium seiner Entwicklung. Um zu verstehen, was dabei passiert, haben viele Forschende in den letzten Jahren Mäuse als Modellorganismen verwendet. "Die Auswirkungen einer CHD8-Mutation bei Mäusen sind jedoch nicht mit denen beim Menschen vergleichbar. Wir haben eine Art menschliches Modell gebraucht", erklärt Professorin Gaia Novarino.

Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der in Mailand befindlichen Institute Human Technopole, European Institute of Oncology, der Universität Mailand und des US-amerikanischen Allen Institute for Brain Science verwendeten Novarino und ihr Team am ISTA sogenannte Organoide. Diese vereinfachten Miniaturversionen von Organen werden aus Stammzellen hergestellt, die die Fähigkeit haben, sich in fast jede andere Art von Zelle zu verwandeln.

Gehirnorganoide unter dem Mikroskop: Mithilfe spezieller Proteinmarker lassen sich strukturelle Details der Organoide (gelb und rot) sowie alle Organoidzellen (blau und grün) erkennen.
Fotos: Novarino-Gruppe/ISTA

Indem sie Stammzellen unter optimalen Bedingungen mit den richtigen Zutaten zum genau richtigen Zeitpunkt versorgten, gelang es den Forschenden einfache Versionen von Gehirngewebe so groß wie Linsen zu schaffen. Damit konnten sie wichtige Prozesse nachahmen. "Organoide sind die einzige Möglichkeit, die Entwicklung des menschlichen Gehirns in einem so frühen Stadium zu untersuchen", so Bárbara Oliveira, Postdoc in der Novarino-Gruppe und eine der Autorinnen der Studie.

Chaos bei der Neuronenproduktion

In Petrischalen erzeugte das Team Gehirnorganoide mit und ohne Mutationen des Gens CHD8. "Nach einiger Zeit konnten wir mit bloßem Auge sehen, dass die mutierten Organoide viel größer waren. Das war der erste Beweis, dass das Modell funktioniert", beschreibt ihr Kollege und Mitautor, der Doktorand Christoph Dotter. Wie bei Patienten mit einer CHD8-Mutation zeigten die Organoide Anzeichen für ein übermäßiges Wachstum des Gehirns.

Das Team identifizierte die verschiedenen Zelltypen der Organoiden und erkannte: Die mutierten Organoide begannen viel früher als die Kontrollgruppe, hemmende Nervenzellen zu produzieren. Sogenannte erregende Nervenzellen wurden dagegen erst später gebildet. Außerdem produzierten die mutierten Organoide viel mehr sich vermehrende, also proliferierende Zellen, die später die genannten Neuronen hervorbringen.

Insgesamt, so schlussfolgerten die Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, führt dies dazu, dass die mutierten Organoide deutlich größer sind als die Kontrollgruppe, was mit der Makrozephalie der Betroffenen korreliert.

Die Mutation bewirkt ein übermäßiges Wachstum der Organoide im Vergleich zur Kontrollgruppe.
Fotos: Novarino-Gruppe/ISTA

Wichtiger Faktor Zeit

Wie frühere Studien der Novarino-Gruppe, zeigt auch ihre jüngste Studie, wie wichtig der Faktor Zeit bei der Untersuchung von Autismus ist. "Verschiedene Zeitpunkte zu untersuchen zeigt, dass das Endresultat möglicherweise nicht das vollständige Bild widerspiegelt. Während sich das Gehirn von Patientinnen und Patienten entwickelt, passiert noch viel mehr", so Novarino. "Wir wissen immer noch nicht genau, wie sich unterschiedliche Entwicklungsverläufe auf die Funktionen des Gehirns auswirken."

Um eines Tages Menschen mit einer CHD8-Mutation helfen zu können, müssen Forschende zunächst die Grundlagen der Gehirnentwicklung besser verstehen. Indem es ihnen gelungen ist, genetische und klinische Merkmale von Autismus-Patienten in Gehirnorganoiden nachzuahmen, hat die Novarino-Gruppe einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. (red, 6.4.2022)