Goldenes Gefäß aus einem reich bestückten Awarengrab. Woher das Reitervolk ursprünglich kam, war lange ein Rätsel.
Foto: KHM-Museumsverband

Für moderne Historikerinnen und antike Autoren gleichermaßen waren die Awaren immer schon ein rätselhaftes Volk. Die mysteriösen Reiterkrieger zerstörten beinahe Konstantinopel und beherrschten in der Spätantike ab den 560er-Jahren die Pannonische Tiefebene zwischen Wien und Belgrad für mehr als zwei Jahrhunderte, ehe sie wieder spurlos verschwanden.

Woher sie ursprünglich gekommen waren, war bisher Gegenstand zahlreicher Spekulationen. Zumindest diese Frage könnte nun mithilfe des Inhalts awarischer Gräber beantwortet werden: Archäologische und genetische Beweise zeigen, dass die Awaren offenbar aus einer weit entfernten Region Ost-Zentralasiens eingewandert waren – und dabei gewaltige Entfernungen in Rekordgeschwindigkeit zurückgelegt haben dürften.

Awarische Eliten in reich bestückten Grabhügeln

Da die Awaren keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen haben, müssen Forschende ihre Schlüsse aus Grabbeigaben und historischen Berichten ziehen. Diese deuten darauf hin, dass sich das Reitervolk kurz nach seiner Ankunft in Europa vor etwa 1.500 Jahren in der Region zwischen dem heutigen Ungarn und Rumänien niederließ und dort über die ursprüngliche Bevölkerung herrschte. Die Eliten der Awaren bestatteten ihre Toten in gewaltigen Grabhügeln, umgeben von Waffen und verzierten Gold- und Silbergefäßen. Pferde und Reitausrüstung wurden den Beigesetzten ebenfalls häufig mit auf den Weg ins Jenseits gegeben, darunter auch die ersten in Europa verwendeten Steigbügel.

Einigen dieser reichhaltig ausgestatteten Gräbern ist es zu verdanken, dass wir nun mehr über die Ursprünge des Reitervolks aus dem Osten wissen: Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien barg an 27 unterschiedlichen Orten genetisches Material von Überresten dutzender hochgestellter awarischer Frauen und Männer. Beim Vergleich der DNA stieß man auf deutliche Übereinstimmungen mit Proben aus Gräbern aus dem sechsten Jahrhundert in der heutigen Mongolei, wie die Forschenden nun im Fachjournal "Cell" berichteten.

Ein berittener Awarenkrieger in voller Montur. Die Rekonstruktion basiert auf Funden aus einem Grab der Ausgrabungsstätte Derecske-Bikás-dűlő bei Debrecen, Ostungarn.
Foto: Ilona C. Kiss

Organisierte Migration oder Flucht?

Aus historischen Quellen weiß man, dass sich schon die Byzantiner nach dem plötzlichen Auftauchen der furchterregenden Reiterkrieger in Europa gewundert hatten, woher diese ursprünglich kamen. Stammten sie aus dem Rouran-Khaganat in der mongolischen Steppe, welches damals gerade von den Türken zerstört worden war, oder sollte man den damaligen Türken glauben, die ein solch prestigeträchtiges Erbe entschieden bestritten? Moderne Historiker stellten sich darüber hinaus die Frage, ob es sich bei den Awaren um eine gut organisierte Migrantengruppe oder um Geflüchtete handelte.

Die archäologische Forschung fand zahlreiche Parallelen in Form von Funden aus dem Karpatenbecken und eurasischen Nomadenartefakten (Waffen, Gefäße, Pferdegeschirr) – beispielsweise ein halbmondförmiges Pektorale aus Gold, das als Machtsymbol diente. Bekannt ist ebenfalls, dass die Awaren den Steigbügel in Europa eingeführt haben. Bislang war es Forschenden jedoch nicht gelungen, ihre Herkunft aus den weiten eurasischen Steppen nachweisen.

Erbgut von 66 Individuen

Diese Wissenslücke konnte ein multidisziplinäres Team aus Forschenden des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (MPI EVA) sowie Kolleginnen und Kollegen aus Österreich, Ungarn und den USA nun schließen. Die Wissenschafter analysierten das Erbgut von 66 Individuen aus dem Karpatenbecken. Darunter befanden sich menschliche Überreste aus acht der reichsten jemals entdeckten Awarengräber, die mit Goldgegenständen überfüllt waren, sowie weitere Personen, die vor und während der Awarenzeit in derselben Region gelebt hatten.

"In unserer Studie sind wir einem 1.400 Jahre alten Rätsel auf der Spur: Wer waren die awarischen Eliten, die geheimnisvollen Begründer eines Reiches, welches Konstantinopel fast vernichtete und mehr als 200 Jahre lang das Gebiet des heutigen Ungarn, Rumänien, der Slowakei, Österreich, Kroatien und Serbien beherrschte?", sagt Johannes Krause vom MPI EVA, Hauptautor der Studie.

Der Inhalt eines Awarengrabs in Derecske-Bikás-dűlő. Auf diesen Funden basiert die oben gezeigte Rekonstruktion – ein gewaltiges Puzzlespiel.
Foto: Szilvia Döbröntey-David

Hinweise auf weiteres Migrationsereignis

Neben der nun festgestellten eindeutigen genetischen Affinität der Awaren zu Nordostasien und ihrer durch den Fall des Rouran-Khaganats naheliegenden Herkunft deuten die Analysen darauf hin, dass weitere 20 bis 30 Prozent des Erbguts der Awarenelite des 7. Jahrhunderts aus einer nichtlokalen Quelle stammten, so die Forschenden. "Dieser Anteil steht möglicherweise in Verbindung mit dem Nordkaukasus und der westasiatischen Steppe und könnte auf ein weiteres Migrationsereignis nach deren Ankunft im 6. Jahrhundert hindeuten", sagt Erstautor Guido Gnecchi-Ruscone vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte.

Die ostasiatische Abstammung konnte in Individuen mehrerer Fundstätten innerhalb des Kernsiedlungsgebiets zwischen Donau und Theiß im heutigen Zentralungarn nachgewiesen werden. Außerhalb ihres Hauptsiedlungsgebiets fanden die Forschenden jedoch eine hohe Variabilität zwischen verschiedenen Individuen hinsichtlich ihrer Abstammung – insbesondere in der südungarischen Fundstätte Kölked. Dies deutet darauf hin, dass die eingewanderte Awarenelite mithilfe einer heterogenen lokalen Elite über eine genetisch sehr diverse Bevölkerung herrschte.

Schnellste Fernmigration der Menschheitsgeschichte

Bringt man die archäogenetischen Ergebnisse in den historischen Kontext, lässt sich auch der Zeitpunkt der Awarenwanderung eingrenzen – und diese Vergleiche brachten eine Überraschung: Laut den Ergebnissen legten die Awaren in nur wenigen Jahren mehr als 5.000 Kilometer zurück – von der Mongolei zum Kaukasus – und ließen sich weitere zehn Jahre später im heutigen Ungarn nieder. "Es handelt sich hierbei um die schnellste bisher rekonstruierte Fernmigration der Menschheitsgeschichte", sagt Koautor Choongwon Jeong. (tberg, red, 6.4.2022)