In seinem Gastkommentar betont der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis die Wichtigkeit der Neutralität und die Möglichkeit eine Vermittlerrolle spielen zu können.

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der auch auf die Zivilbevölkerung, Kinder eingeschlossen, zielt und damit das Genfer Abkommen IV "über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten" missachtet, hat auf einen Schlag eine friedvolle Epoche unseres Kontinents beendet. Er ist der erste Überfall auf ein souveränes, demokratisches Land seit Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939. Mit gravierenden Auswirkungen auf die Menschen in der Ukraine, aber auch auf das russische Volk, auf Europa, auf die ganze Welt. Denn die Lieferungen aus den Kornkammern Ukraine und Russland an die ärmsten Länder in der ganzen Welt sind durch den Krieg infrage gestellt. Hungersnöte drohen.

Auch in der Schweiz wurden Hilfspakete mit medizinischem Material auf Lkws zum Transport in die Ukraine geladen.
Foto: EPA / Michael Buholzer

Die Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Unterdrückung hat zwar gerade einen Tiefpunkt erreicht, dafür hat die freie Welt mit einer Einigkeit reagiert, die so nicht unbedingt erwartet werden konnte. Auch für die schweizerische Regierung ist klar: Die Schweiz darf diese heftige völkerrechtliche Verletzung nicht stillschweigend hinnehmen, sondern muss Stellung beziehen. Mit Sanktionen, um den Krieg zu stoppen; mit würdigen Antworten auf Flüchtlingsschicksale in der Schweiz und vor Ort, mit diplomatischen Initiativen sowie mit der Solidarität unzähliger Schweizerinnen und Schweizer. Das ist unsere humanitäre Tradition.

Dieser Krieg ist von einer Zerstörungskraft getrieben, die alle Prinzipien der Zivilisation sprengt. Deshalb hat die Schweiz die EU-Sanktionspakete vollständig übernommen. Dies hat Sorgfalt und Entschiedenheit erfordert, denn Sanktionen dürfen unser Neutralitätsrecht nicht beeinträchtigen. Das heißt, wir unterstützen weiterhin keine Kriegspartei militärisch, weder mit Truppen noch mit Waffen.

Kein Dogma

Die Neutralitätspolitik ist hingegen kein Dogma, sondern ein flexibles Instrument unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Ein mit Solidarität und Werten verknüpftes Instrument, das sich sowohl am Landesinteresse des Neutralen als auch am Interesse der Staatengemeinschaft orientiert. Daher gibt es einen Spielraum. Neutral sein heißt nicht untätig sein. Russland hat das im Völkerrecht verankerte Gewaltverbot derart schwerwiegend verletzt, dass ein Nichthandeln der Schweiz dem Aggressor in die Hände gespielt hätte. Dies hat dem Bundesrat als Maßstab für seine Entscheide gedient.

Die Geschichte lehrt uns, dass es eine Zeit danach geben wird, wenn die Waffen wieder schweigen. Auf dieses Ziel hin ist die Schweiz ausgerichtet und bereit, den Kriegsparteien und den internationalen Organisationen ihre Diplomatie und Guten Dienste anzubieten, um den Weg zum Frieden zu ebnen. Das ist ein zentraler Pfeiler unserer Außenpolitik, wie die Wahrung der Landesinteressen. Wir müssen uns also in aller Bescheidenheit eines kleineren Staates zusammen mit den Akteuren der Weltsicherheitspolitik für Auswege aus diesem schrecklichen Krieg einsetzen. Insbesondere können wir eine Vermittlerrolle spielen. Während wir die Sanktionen solidarisch unterstützen, können wir den Weg für den Dialog ebnen, Lösungen vorschlagen und den diplomatischen Weg fördern, für den wir bekannt sind.

"Russland hat das im Völkerrecht verankerte Gewaltverbot derart schwerwiegend verletzt, dass ein Nichthandeln dem Aggressor in die Hände gespielt hätte."

Zunächst bringt dieser Krieg jedoch die Flüchtlinge, allen voran Kinder, Frauen und ältere Menschen, in eine große Notlage. Nur gemeinsam, indem wir unsere Anstrengungen bündeln, kann der Westen diese Herausforderung meistern. Die Schweiz hat eine wichtige Rolle zu spielen, insbesondere mit ihren Aufnahme- und langfristigen Integrationskapazitäten. Aus diesem Grund haben wir den sogenannten "Schutzstatus S" aktiviert, um ukrainischen Flüchtlingen schnell und einfach Schutz zu gewähren.

Auch Österreich hat den von der EU gewährten Schutzstatus für ukrainische Flüchtlinge sehr rasch eingeführt. Diese werden so in der Lage sein, Unterstützung in der Bevölkerung zu finden. Sie werden hoffentlich auch ihrem Leben wieder einen Sinn geben können. Niemand weiß, wie lange der Krieg dauern und wann eine Rückkehr in die Heimat möglich sein wird. Sicher ist jedoch, dass auch Wiederaufbauprojekte Teil unserer Antwort auf das traurige Schicksal der Flüchtlinge sein werden.

Nicht vorhersehbar

Dieser Konflikt erschüttert uns alle. Obwohl in der Tragik nicht mit den Kriegsopfern und ihren Familien vergleichbar, gibt es auch bei uns – sowohl in Österreich als auch in der Schweiz – wirtschaftliche Folgen bis hinein in die Unternehmen, in die Haushalte, in den Alltag. Anders als bei Corona sind wir nicht direkt betroffen, wohl aber indirekt. Und auch diesmal ist nicht vorhersehbar, wer wie lange und wie stark davon betroffen sein wird. Die Welt hat sich seit dem 24. Februar geändert – und zwar nicht zum Guten. Freiheit und Demokratie müssen stets aufs Neue mutig verteidigt werden. Das hat seinen Preis. Die Schweiz ist bereit, diesen zu bezahlen. (Ignazio Cassis, 7.4.2022)