Zerstörte Gebäude sind in Borodjanka zu sehen – doch wird in der Stadt noch viel Schlimmeres befürchtet.

Foto: AFP / Sergei Supinsky

Nur langsam fügt sich zusammen, was im Nordwesten von Kiew in den vergangenen Wochen vor sich gegangen ist: Butscha, Irpin, Hostomel. Das sind Orte, die noch vor wenigen Tagen von russischen Einheiten besetzt gewesen waren. Und es sind Orte, die sich eingebrannt haben in das kollektive Gedächtnis.

Die Bilder aus Butscha mit hunderten erschossenen Zivilisten auf Straßen oder in Massengräbern sind um die Welt gegangen. Mittlerweile gibt es mit Oberstleutnant Azatbek Omurbekow einen Verdächtigen, der für die dortigen Gräueltaten verantwortlich sein soll. Aber laut ukrainischen Angaben könnte das, was sich im Vorort Kiews offenbart hat, nur die Spitze des Eisbergs sein. Staatsanwaltschaft und Präsident Wolodymyr Selenskyj nannten in diesem Zusammenhang zuletzt nun einen Ort: Borodjanka.

Düstere Vorahnungen

Im ukrainischen Fernsehen sprach die ukrainische Staatsanwältin Iryna Wenediktowa davon, dass es "die schlimmste Lage mit zivilen Opfern" vermutlich in Borodjanka gebe. Mehr sagte sie nicht. Und mehr wollte sie auch auf direkte Nachfrage dazu nicht bekanntgeben. Tags zuvor hatte bereits Präsident Selenskyj bei einem ersten Besuch in Butscha gesagt, die ukrainischen Behörden hätten Informationen darüber, dass die Zahl der Opfer in Borodjanka und anderen befreiten Städten um ein Vielfaches höher sei.

Zeugen und Zeuginnen der russischen Angriffe auf Bododjanka sprechen über die Gräueltaten.
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Konkret nannte er neben Borodjanka weitere Gebiete um Kiew, das Umland um die Stadt Tschernihiw im Norden der Ukraine sowie die Region Sumy im Nordosten. Die Okkupanten hätten dort Dinge getan, so Selenskyj, die die dortige Bevölkerung nicht einmal während der Nazi-Okkupation erlebt hätte.

Massive russische Präsenz

Borodjanka ist also einer dieser Orte, aus denen bisher nur Andeutungen über mögliche Kriegsverbrechen kommen. Der Ort liegt 35 Kilometer nordwestlich von Kiew. Während der russischen Versuche, die ukrainische Hauptstadt westlich zu umgehen und so den Belagerungsring zu schließen, war der Ort schwer umkämpft. Zwischenzeitlich lag die Ortschaft dann aber mitten im Gebiet, das von der russischen Armee gehalten wurde – mit massiver russischer Präsenz. Geschätzt wird, dass in dem relativ kleinen Gebiet von der Grenze zu Belarus bis in die Außenbezirke Kiews bis zu 40.000 russische Soldaten stationiert waren.

Minen und Munition

Dass es den ukrainischen Stellen jetzt nur sehr langsam gelingt, sich einen Überblick zu verschaffen, hat dabei sehr gute Gründe: Minen und Unmengen an Munition, die in dieser mehr als einen Monat lang schwer umkämpften Region und nach dem Rückzug der russischen Einheiten überall herumliegen.

Aufgrund schwerer Verluste habe der Feind in dem Gebiet den Rückzug angetreten, so der Pressedienst der ukrainischen Armee auf Nachfrage. Und: "Derzeit laufen Säuberungsaktionen." Mit Säuberungsaktionen sind dabei Entminungsoperationen gemeint, aber auch das gezielte Aufspüren russischer Sabotagegruppen, die sich noch in der Region befinden dürften.

Dass es dauert, hat aber vor allem noch einen anderen Grund: Die ukrainische Polizei, zuständig für die Dokumentation der Tatorte, ist bei den Erhebungen zumindest derzeit noch auf sich allein gestellt.

OSZE derzeit nicht im Land

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat eigenen Angaben zufolge derzeit kein Mandat zur Entsendung von Experten. Die Inkraftsetzung des Moskauer Mechanismus der OSZE, der den Zweck hat, in humanitären Notlagen rasch Experten zu entsenden, um die Lage zu evaluieren, hat keine konkreten Folgen nach sich gezogen.

Und die Sonderbeobachtermission der OSZE, die 2014 ins Leben gerufen worden war, hat ihre Tätigkeiten ja aufgrund der russischen Invasion eingestellt. Nun werden aber in der Uno Rufe nach einer Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen und vor allem auch einem Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat laut. Die EU hat diesbezüglich konkrete Hilfe in Aussicht gestellt.

Weitere schreckliche Funde

Und so lässt sich noch sehr wenig in Zahlen festmachen. Am Sonntag gab die ukrainische Staatsanwaltschaft bekannt, man habe bis zu diesem Zeitpunkt die Leichen von 410 Zivilisten aus dem Gebiet gebracht. Gemeint war damit aber vor allem das Konglomerat Irpin, Butscha, Hostomel, Worsel – also Orte rund um Kiew. Und selbst dort tauchen auch nach Tagen noch neue Massengräber und Folterkeller auf. Leichen wurden dort schließlich auch in der Kanalisation, in Gräben und in Brunnenschächten gefunden.

Zu Borodjanka heißt es seitens der Staatsanwaltschaft nun lediglich: Darüber werde man wohl gesondert sprechen müssen. Und weiter: "Es gibt eine Menge zu besprechen." (Stefan Schocher, 6.4.2022)