Jérémy Cohen wurde von einer Straßenbahn überrollt, nachdem er geschlagen worden war.

Foto: Thomas COEX / AFP

Während der Vorsprung von Emmanuel Macron in den Umfragen schmilzt und die Spannung vor dem ersten Wahlgang am Sonntag steigt, platzt ein Todesfall in den französischen Präsidentschaftswahlkampf. Jérémy Cohen, ein jüdischer Informatiker mit einer offenbar nicht sichtbaren Behinderung, war Mitte Februar in der Pariser Vorstadt Bobigny von einem Dutzend Jugendlicher angegriffen worden. Ein Video zeigt, wie er geschlagen wird, hinfällt, davonrennt und auf der anderen Straßenseite von einer nahenden Straßenbahn überfahren wird.

Vieles ist noch unklar – vom Streitgrund bis zur Frage, ob das Opfer eine Kippa trug. Das wäre ein Hinweis auf ein antisemitisches Motiv. Die Staatsanwaltschaft hatte anfangs nur verlauten lassen, den Straßenbahnlenker treffe keinerlei Schuld. Für die Angehörigen des 31-jährigen Opfers klang das faul. Allzu oft schon hatten die französischen Behörden unvorsichtigerweise jeden Antisemitismus ausgeschlossen. Die Morde an der Jüdin Sarah Halimi 2017 und an Mireille Knoll ein Jahr später wurden erst später als antijüdisch qualifiziert.

Frage der Kippa

Die Brüder von Jérémy Cohen starteten daraufhin selber eine Suche nach Zeugen. Sie erhielten in der Tat ein Video, in dem Unbekannte den Tathergang gefilmt hatten. Erst nach der Verbreitung des Videos lancierte die Justiz eine Voruntersuchung gegen die Angreifer, die nicht verhaftet oder einvernommen wurden. Ein "diskriminierendes", das heißt antisemitisches Motiv nimmt der zuständige Staatsanwalt aber weiterhin nicht an, wie er am Dienstag mitteilte. Ob eine Kippa im Spiel war, sei unbekannt, sagte er.

Cohens Familie behauptet dagegen, Jérémy habe eine weiße Kippa bei sich gehabt und vermutlich auch getragen. Sein Vater räumte im Fernsehen ein, er habe sich aus der Befürchtung, "dass auch diese Affäre unter den Tisch gekehrt wird", an den Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour gewandt. Dieser rechte Einwanderungsgegner jüdisch-algerischer Abstammung, der in den Umfragen zurückgefallen ist, twitterte umgehend: "Ist er tot, weil Jude? Warum wird die Affäre vertuscht?"

Le Pen fordert Untersuchung

Damit ist der Todesfall vollends ein Politikum – und ein Wahlkampfthema. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen spricht von der Möglichkeit eines "antisemitischen Mordes" und verlangt eine parlamentarische Untersuchung. Linken-Chef Jean-Luc Mélenchon und der Grüne Yannik Jadot verlangen unisono, dass "volles Licht in die Affäre" gebracht werde. Die Konservative Valérie Pécresse sprach von einem "Lynchmord".

Macron rief seinerseits Cohens Eltern an und versicherte ihnen, er werde persönlich dafür sorgen, dass die Ermittlungen rasch vorankämen. Bei einem Auftritt in der Bretagne sprach sich der wieder kandidierende Präsident aber auch gegen "politische Manipulationen" aus, womit er Zemmour und Le Pen meinte.

Schub für die Rechten?

Pariser Medien schätzen, dass der Todesfall die gesamte Präsidentschaftskampagne umstürzen könnte. Vor allem Zemmour verspricht sich neuen Auftrieb, nachdem er als Putin-Versteher in den Umfragen zurückgefallen war. Aber auch Le Pen kann nur davon profitieren, wenn die ganze "Banlieue-Frage" in den medialen Fokus zurückkehrt.

Das französische Wahlsystem mit seinen beiden Durchgängen bringt es mit sich, dass es oft nur wenig braucht, um einen kompletten Umschwung herbeizuführen. Die Abstände zwischen Qualifizierten und den dahinter Folgenden sind oft gering. Im Jahr 2002 schaffte es der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen mit 0,7 Prozent Vorsprung auf den Sozialisten Lionel Jospin in die Stichwahl.

Kritik an Medien

Dieser Umstand produzierte viel Gesprächsstoff. Nur zwei Tage zuvor hatte Frankreich großen Anteil an einem erpresserischen Einbruchsversuch in Orléans genommen. Das Fernsehen zeigte einen weinenden Pensionisten namens Paul Voise in seinem ausgebrannten Haus. Viele Politologen begründeten später das überraschende Vordringen Le Pens in die Stichwahl mit den ergreifenden Bildern des Einbruchsopfers. "Die Tränen von Papy Voise" (von Großvater Voise) sind in Frankreich heute ein stehender Ausdruck für den medialen Einfluss auf Wahlen.

Im Fall von Jérémy Cohen befleißigen sich die französischen Medien nun einer gewissen Zurückhaltung. Das bringt ihnen umgekehrt den Vorwurf von rechts ein, sie verschwiegen "einen Staatsskandal". Wie schon in früheren Fällen wird die Wahrheit erst nach der Wahl bekannt werden. (Stefan Brändle aus Paris, 6.4.2022)