Ergänzend zu unserer Reihe "Geradegerückt" rücken wir seit kurzem auch nach vor. In der Spin-off-Reihe "Vorgerückt" stellen wir vergessene, kaum gewürdigte und (noch) zu unbekannte, aber beeindruckende Lebensgeschichten vor, die deutliche Spuren hinterlassen haben.


Als Jules Verne im Jahr 1873 seinen Phileas Fogg in 80 Tagen um die Welt schickte, konnte er noch nicht ahnen, dass nur wenige Jahre nach Erscheinen des Romans eine Frau es in nur 72 Tagen schaffen würde, eine solche Weltreise zu unternehmen. Im Auftrag einer großen Zeitung war Nellie Bly als Journalistin auf dieser Mission, in direkter Konkurrenz mit einer Kollegin einer anderen US-amerikanischen Zeitung. Auf dem Weg von London in Richtung Italien besuchte sie auch Verne in Frankreich, der zu ihr gesagt haben soll: "Wenn Sie es in 79 Tagen schaffen, werde ich Ihnen applaudieren. Aber 75 Tage, das wäre ein Wunder!" Bly hat das Wunder vollbracht. Und das ist vielleicht nicht einmal das Spannendste an ihrer Biografie.

So brach Nellie Bly zu ihrer Reise um die Welt auf. Nellie Bly war Ende des 19. Jahrhunderts eine der bekanntesten Journalistinnen der USA.
Foto: Library of Congress

1864 wurde Nellie Bly als Elizabeth Jane Cochrane in Pennsylvania geboren. Nach dem Tod des Vaters blieb vom aufgeteilten Vermögen für insgesamt 14 Kinder und die Mutter nicht mehr allzu viel übrig. Elizabeth Cochrane wusste schon im Teenager-Alter, dass sie sich um ihr Auskommen selbst wird kümmern müssen. Mit 15 wollte sie eine Ausbildung zur Lehrerin machen, aber dafür reichte das Geld dann doch nicht bis zum Ende der Schule aus.

Von der Leserbriefschreiberin zur Kolumnistin

Ihre Karriere als Journalistin verdankte Bly einem geharnischten Leserbrief, den sie der Tageszeitung "Pittsburgh Dispatch" schrieb. Darin nahm sie die "Frauen sollen Kinder kriegen und kochen"-Tiraden eines Redakteurs auseinander. Sie unterzeichnete diesen mit "Einsames Waisenmädchen". Der Chefredakteur der Zeitung fand nicht nur Gefallen an dem Leserbrief, den er natürlich veröffentlichte. Über eine Anzeige in der Zeitung suchte er auch nach dem anonymen "Einsamen Waisenmädchen". Cochrane marschierte also in die Redaktion und ging als Kolumnistin wieder raus. Wenig später ändert sie ihren Namen auf Nellie Bly.

Am Ende des 19. Jahrhunderts stellten Zeitungen und Zeitschriften in den USA vermehrt Frauen ein – weil man mit ihnen die "klassisch weiblichen" Bereiche wie Kochen oder Lifestyle abdecken wollten. Was aber mit Journalistinnen wie Bly passierte, ist, dass so auch quasi nebenher die Geburtsstunde des Undercover-Journalismus eingeläutet wurde.

Die Stunde der "girl stunt reporter"

Unter dem Begriff "girl stunt reporter" beeinflussen Frauen wie Nellie Bly die Entwicklung des Journalismus maßgeblich, auch wenn andere, vor allem Männer, im kollektiven Gedächtnis blieben. Diese "girl stunt reporter" waren allesamt junge Frauen, die sich sozialen Brennpunkten, gesellschaftlich relevanten Themen wie Abtreibung oder Missbrauch zuwandten und diese Geschichten einer breiten Leserschaft zugänglich machten. Und die Leserinnen und Leser gierten nach diesen Geschichten, genauso wie die Werbetreibenden sich von den steigenden Leser:innenzahlen zu mehr Buchungen hinreißen ließen. Verleger suchten also nach jungen Journalistinnen, die sich auf diese Sensationsgeschichten einließen – zum Teil unter Einsatz ihrer körperlichen Gesundheit und ihrer Sicherheit.

Keine Lust auf Kuchen- und Küchen-Geschichten: Nellie Bly ließ sich einweisen und deckte Missstände auf.

Bly hatte nämlich überhaupt keine Lust darauf, nette Damen-Geschichten zu schreiben. Ihre Kindheit verlief in relativer Armut, und so schärften generell ihre Erfahrung als Frau in der Gesellschaft ihren Blick auf die Unterprivilegierten, auf die Armen, auf die Kinder und auf die Frauen. Eine ihrer ersten Artikelserien beschäftigte sich mit dem Schicksal einer Fabrikarbeiterin.

Als man ihr vermehrt Mode- oder Kunst-Geschichten in Auftrag gab, nahm sie die Stelle als Korrespondentin in Mexiko an und berichtete ein halbes Jahr lang von dort über Korruption und Armut in dem Land. Bis sie die mexikanische Regierung wegen ihrer Berichte dazu aufforderte, das Land zu verlassen. Nach ihrer Rückkehr wurde sie als Theaterkritikerin bei der "Pittsburgh Dispatch" weiterbeschäftigt – nicht sehr verwunderlich, dass ihr das auch keinen Spaß machte.

Sie kündigte und zog 1887 nach New York. Es sollte einige Zeit dauern, bis sie dort einen Job finden würde. Dieser wird sie aber endgültig berühmt machen. Noch im selben Jahr begann sie für die "New York World" zu arbeiten, die Zeitung gehörte dem legendären Verleger Joseph Pulitzer – ja, dem mit dem Preis.

"Zehn Tage im Irrenhaus"

Mit ihrem Bericht "Zehn Tage im Irrenhaus", der auch als Buch veröffentlicht wurde, schlug Bly Wellen. Sie ließ sich unter falschem Vorwand einweisen und verbrachte eben jene zehn Tage in der psychiatrischen Einrichtung. Sie berichtete von Missständen, Missbrauch und Mangel an Ernährung, aber auch davon, dass in der Anstalt viele Frauen landeten, die einfach zu wenig Geld hatten, um wieder rauszukommen. Daraufhin kam auch die Stadtverwaltung nicht mehr aus, renovierte die Einrichtung und modernisierte das Einweisungsverfahren.

Danach bat sie der Verleger nicht mehr, über Kochen oder Gärten zu schreiben. Als anerkannte Journalistin schrieb Bly über das Leben von Dienstmädchen in der New Yorker High Society oder über Arbeitsrechtler, außerdem deckte sie einen Korruptionsskandal im New Yorker Parlament auf oder versuchte undercover ein Baby zu kaufen.

Neu war dabei vor allem der Stil, die Ich-Perspektive, die fast schon literarische Art, wie diese Geschichten erzählt wurden. Alles Gründe, warum Leserinnen und Leser diese neuartigen Berichte der Journalistinnen in ganz Amerika regelrecht verschlangen. Vieles, was wir heute unter "Gonzo-Journalismus" kennen und was wir vor allem mit Männern im 20. Jahrhundert verbinden, wurde also in Wahrheit von Frauen wie Nellie Bly geprägt und großgemacht, um dann über lange Zeit weitgehend vergessen zu werden.

Reise um die Welt

Im Jahr 1889 brach Nellie Bly zu ihrer Reise um die Welt auf. Angestachelt von Jules Vernes "In 80 Tagen um die Welt" wollte sie wissen, ob sich das wirklich ausgeht. Und diese Reise wurde zu einem Riesenspektakel, das die "New York World" groß auf ihren Titelseiten berichtete. Nicht zuletzt deswegen, weil das Konkurrenzblatt "Cosmopolitan" ebenfalls eine Journalistin, Elizabeth Bisland, auf dieselbe Reise – nur in die entgegengesetzte Richtung – schickte.

Diese zeitgenössische Illustration vom 8. Februar 1890 aus der "Illustrated Newspaper" zeigt Nellie Blys Ankunft am New Yorker Bahnhof nach ihrer Weltreise.
Foto: Library of Congress

Nellie Bly startete mit dem Schiff in New York und fuhr nach London. Von dort ging die Reise per Zug, Schiff und was es auch immer zum Weiterkommen gab über den Suez-Kanal nach Indien, China und Japan, über den Pazifik wieder retour in die USA. Nach 72 Tagen, sechs Stunden und elf Minuten kam Nellie Bly wieder in New York an und wurde am Bahnhof von zahlreichen Menschen freudig erwartet. Im Alter von 26 Jahren verfasste sie mit "In 72 Tagen um die Welt" einen Reisebericht, den zu jener Zeit alle lesen wollten. Aus heutiger Sicht ist es ein launiger Reisebericht, in dem wir wohl auch rassistische Anklänge herauslesen.

Nellie Bly arbeitete danach noch einige Jahre lang als Journalistin und führte zum Beispiel ein Interview mit der Anarchistin Emma Goldman, die zu der Zeit im Gefängnis saß. Bly hängte ihren Beruf 1895 an den Nagel und heiratete den wesentlich älteren Industriellen Robert Livingstone Seaman. Nach seinem Tod 1904 übernahm sie als Alleinerbin das Unternehmen, es finden sich Patente für Milchkannen und Abfalltonnen, die unter ihrem Namen laufen.

Kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges ging das Unternehmen bankrott. Nellie Bly stieg noch einmal in den Journalismus ein, fuhr nach Wien und arbeitete über fünf Jahre hinweg als Kriegsreporterin für das "New York Evening Journal". Sie kehrte erst 1919 wieder in die USA zurück und blieb Kolumnistin. Im Jahr 1922 starb Nellie Bly in New York an einer Lungenentzündung. (Daniela Rom, 15.4.2022)