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Emmanuel Macron wird von seinen Fans zelebriert. Für viele andere in Frankreich dient er aber als Hassfigur.

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Die Atmosphäre in der La Défense Arena westlich von Paris ist euphorisch, siegesgewiss. Der aus Rugbystadien bekannte Einheizer leistet ganze Arbeit: Die Halle singt die "Marseillaise", noch bevor der Hauptgast auf die Bühne steigt. Es ist der einzige Gast – Emmanuel Macron unterhält die 35.000 Anhänger in US-Manier ganz allein auf der zentralen Bühne der Boxkampfmanege.

Der amtierende Präsident ruft keine Minister oder Politstars auf die Bühne; auch seine Wahlversprechen klingen nebensächlich. "Das Programm bin ich", lautet ungesagt die Botschaft des Alleinunterhalters.

Seinen zweistündigen Auftritt beginnt er mit einer Bitte: "Auch wenn unsere Demokratien bombardiert werden – pfeift unsere Gegner nicht aus. Hört ihr: Nie!" Die Vorbemerkung wäre unnötig gewesen: Macron ignoriert seine Rivalen rundum, er erwähnt weder Marine Le Pen noch Wladimir Putin namentlich. An diesem Samstag, am einzigen Großauftritt seines Wahlkampfes, wirkt der Gentleman-Kandidat fast etwas allein. Vielleicht nicht gerade wie ein kleiner Prinz oder ein Narziss im einsamen Spiegeldialog; doch an diesem Abend gibt es nur einen, und das ist Emmanuel Macron.

Ist Macron noch der Mann der Vorsehung?

Seinen Fans genügt das vollauf. Vor fünf Jahren hatten sie schon auf den strahlenden, damals noch nicht vierzigjährigen Neuling gesetzt, als wäre er der "homme de providence", der Mann der Vorsehung. Unverbraucht war er bei der Wahl 2017 gewesen, ohne Altpartei, dafür mit der Gunst der Stunde: All seine Widersacher, François Fillon, François Hollande, Alain Juppé, dann auch Marine Le Pen in einem desaströsen TV-Duell, erledigten sich wie von selbst.

Jetzt, im Frühling 2022, scheint alles anders: Überall herrschen Krisen, Konflikte und Kriege, und jetzt wollen die Franzosen keine frischen Kräfte oder Experimente mehr; sie wollen einen Leader mit Amtserfahrung, einen erprobten Staatenlenker, der mit der komplizierten EU umgehen und sich gegen Despoten wie Putin behaupten kann. Sie wollen einen Politprofi, der weiß, wie man die Franzosen packt und man im Élysée regiert. Einen wie Macron.

Und die Sterne sind wieder mit ihm, auch wenn sich die Konstellation verändert hat. Seine schärfsten Widersacher Marine Le Pen, Éric Zemmour und Jean-Luc Mélenchon haben sich als langjährige Putin-Fans selbst disqualifiziert. Ohne dass der Präsident den kleinen Finger gerührt hätte, führt er die Umfragen an. Alles läuft wieder einmal für ihn.

Macron als Hassfigur

Wirklich? Der agile Superpräsident und europäische Strahlemann, den die Zeitung "Le Monde" als "außergewöhnlichen Verführer" bezeichnet, hat auch einen Schwachpunkt. Der Schwachpunkt ist er selbst. Dieser Umstand äußert sich im Titel eines Buches, das in Paris derzeit Furore macht und dessen Titel für sich selbst spricht: "Macron, warum so viel Hass?" Die beiden Autoren Nicolas Domenach und Maurice Szafran erzählen darin die Geschichte eines Präsidenten, der bei seinen Abstechern mit Eiern beworfen und mit Ohrfeigen empfangen wird, begleitet vom Ruf "démission!", manchmal auch "dégage!", zu Deutsch: Hau ab!

An sich wollten die zwei gewieften Buchautoren eine nüchterne Bilanz des fünfjährigen Macron-Mandates ziehen, wie sie erzählten. Doch als sie sich im Land umhörten, stießen sie nach eigenen Worten allenthalben auf Zurückweisung und offene Feindschaft gegenüber dem Staatschef. Der Titel ihres Buchs habe sich da von selbst ergeben, sagt Domenach.

Gewiss, die präsidiale Funktion und Aura schützen den Staatschef – wenn seine Leibwächter die Zaungäste nicht näher als auf Armeslänge heranlassen. Ersatzweise beschimpfen rabiate Impfgegner und Gelbwesten die Abgeordneten der Macron-Partei La République en Marche. "Tötet ihn!", riefen sie dem Macronisten Romain Grau zu, weil sie es Macron nicht direkt zurufen konnten.

Eine Vertreterin der linkspopulistischen Unbeugsamen, Raquel Garrido, twitterte mit Blick auf den letzten, 1793 in der Revolution guillotinierten Bourbonenkönig: "Ludwig XVI. wurde enthauptet. Macron, wir können nochmal."

Antisemitische Stimmung

Garridos Parteichef Mélenchon geißelt in seinen Kurzkommentaren seinerseits den "Président des riches", den Präsidenten der Reichen. Für den französischen Oskar Lafontaine beging Macron die Erbsünde, die Kapitalgewinne von der Vermögenssteuer auszunehmen, um die Investitionen in die Wirtschaft anzukurbeln. Das war unverzeihlich für den früheren "Rothschild-Banker", als den ihn seine Gegner gerne betiteln. Ein bretonischer Ex-Bürgermeister erzählte, wie ihn ein Bürger gefragt habe, ob Macron Jude sei. Er habe verneint. Da habe der Bürger gefragt: "Auch nicht ein bisschen?"

Die Politologin Chloé Morin meint, Macron verkörpere "das Bild des Erfolgs". Und das ist in Frankreich nicht positiv gemeint. "Die Franzosen stellen fest, dass sie zum Monatsende kein Geld mehr haben, während Macron die Pariser Eliten protegiert", erklärt Morin. Einem Arbeitssuchenden bedeutete der Präsident, er müsse "nur über die Straße gehen", um einen Job zu finden. Ein andermal sinnierte er, im Bahnhof begegne man Leuten, die es zu etwas gebracht hätten – "und anderen, die nichts sind".

Präsidial oder Egomane?

Für den Psychoanalytiker Gérard Miller ist mit Macron kein Landesvater wie Charles de Gaulle oder Jacques Chirac im Élysée, sondern ein unreifer Jugendlicher mit Allmachtfantasien. Deshalb inszeniere er sich selbst als Jupiter in seinem Olymp und begegne den Armen mit Verachtung.

Als Macron einmal gefragt wurde, warum er stets verspätet zu seinen Terminen komme, scherzte er: "Ich bin nie verspätet, denn ohne mich kann niemand beginnen." Und als ihm seine frühere Kommunikationsberaterin Sibeth Ndiaye riet, sich bei einem Lokaltreffen kurz zu fassen, antwortete ihr Macron trotzig: "Ich tue, was ich will." Die Zuhörer durften dem brillanten Diskurs des Eliteschulabgängers zwei Stunden zuhören.

Als kühl denkender Mensch – ein sozialistischer Ex-Minister bescheinigt ihm ein "Herz wie ein Algorithmus" – weiß Macron, welche Gefühle er auslöst. Er bemüht sich um ein schlichteres, bürgernahes Auftreten. Auch wenn es ihm zeitweise gelingt, kann er nie ganz den Eindruck verwischen, dass er schauspielert.

Macron kann auch Charmeur sein

An diesem Samstag in der Arena von La Défense, spielt er den Galan. "Die, die mir am meisten gibt", sagt er mit Kunstpause, um dann auf seine 24 Jahre ältere Gattin in der ersten Sitzreihe zu deuten – "Brigitte". Dann gibt sich Macron als Beschützer gegen die "planetaren Störungen" durch das Virus, das Klima, den wilden Kapitalismus und den Imperialismus. Sein Rezept dagegen heißt: Optimismus. Das mag etwas vage klingen. Nicht für seine in der Arena versammelten Anhänger, die rundum guter Dinge sind. Soziologen nennen sie "das Frankreich, dem es gutgeht": die obere, urbane, gebildete Mittelschicht, die mit der Zeit geht, die vernetzt ist und hier in den Bürotürmen des Pariser Geschäftsviertels La Défense arbeitet.

Sie sind vielleicht enttäuscht, dass Macron das Land nicht stärker reformiert hat, als er es im Wahlkampf 2017 in seinem Buch "Révolution" versprochen hatte. Nicht einmal seine wichtigste Reform – die des Rentensystems – brachte er durch. Jetzt verspricht er, einen neuen Anlauf mit Rentenalter 65 zu nehmen. Seine Wähler sehen es ihm nach, denn Macron ist vor allem ein Bollwerk gegen die Populisten, und von denen haben die besser Situierten nichts zu erwarten. Nichts als politische und soziale Spannungen, vielleicht gar eine Annäherung an Moskau.

Die Peripherie wählt eher Le Pen

Doch draußen vor der Stadt, an der ausfransenden Peripherie, da gibt es auch noch ein anderes Frankreich, dem es nicht so gut geht. Arbeiter, Kleinbeamte, Rentner, Arbeitslose. Das sind Le Pens Wähler. Und je rasanter die Benzinpreise steigen, desto zahlreicher werden sie. Auch das hat Marine, wie sie an den Stadträndern und in Dorfkneipen genannt wird, als Erste erkannt. Zum Wahlkampfschluss legt sie in den Umfragen zu. Ihren Rückstand auf Macron hat sie bereits halbiert: 23 Prozent für sie im ersten Wahlgang, 26 Prozent für ihn; 47 Prozent für sie im zweiten Wahlgang, 53 für ihn.

Macron vermeidet ihren Namen bei seinem Wahlauftritt. Auch seine Berater wollen in der La Défense Arena nicht über ihre Aufholjagd sprechen. Aber ihre Sorge wächst. Pariser Medien fragen, ob es nicht falsch gewesen sei, den Wahlkampf den anderen zu überlassen. Sogar während seiner Soloschau bleibt Macron verhaltener als 2017: Damals hatte er sich an einzelnen Meetings die Seele regelrecht aus dem Hals geschrien.

Gewiss ist er nun ein gesetzter Staatspräsident, der seine Gefühlsausbrüche zäumen muss. Deshalb wirkt Macron nun ohne jene authentische Politleidenschaft, die die Franzosen spüren wollen, bevor sie jemanden ins Élysée schicken. Das ist gefährlich für den Amtierenden. Seine Vorgänger François Hollande und Nicolas Sarkozy kamen nicht über ein Mandat hinaus, weil die Franzosen nach fünf Jahren genug hatten von ihnen. Macron steht zweifellos besser da. Aber er merkt eben erst: Gewonnen hat er nicht. (Stefan Brändle aus La Défense, 9.4.2022)