Neue Abkommen zwischen Europa und den USA könnten den drohenden Abschwung des Welthandels kompensieren.

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Die Schockwellen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind mittlerweile global zu spüren: Laut aktuellen Zahlen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) nahm der weltweite Handel im März um satte drei Prozent ab. Expertinnen und Experten wie der US-Ökonom Adam Posen befürchten, dass der Krieg den Trend der "Deglobalisierung" nun beschleunigen könnte – mit ungeahnten Folgen für die Weltwirtschaft. Aus Sicht von Posen gebe es aber einen Weg aus der drohenden Krise: neue Handelsabkommen zwischen westlichen Demokratien.

Schon die restriktive Handelspolitik Donald Trumps und die Corona-Krise hätten zu einer "Korrosion" des globalen Handels geführt, schreibt der Ökonom in der aktuellen Ausgabe des US-Fachmagazins "Foreign Affairs". Jetzt komme ein weiteres Problem hinzu: Es sei wahrscheinlich, dass sich die "Weltwirtschaft in zwei Blöcke teilt – einen, der sich an China orientiert, und einen anderen, der sich den USA zuwendet".

China muss sich entscheiden

Katrin Kamin, Ökonomin am IfW, sieht die Lage weniger dramatisch: "Natürlich beobachten wir, dass es zu einer Blockbildung kommt", sagt Kamin dem STANDARD. "Langfristig bin ich aber optimistischer." Die aktuellen Krisen hätten Europa und die USA ihre Abhängigkeit auf drastische Weise bewusstgemacht. Auf lange Sicht werden die positiven Aspekte der Globalisierung aber dominieren, glaubt die Ökonomin.

Ob sich tatsächlich abgekoppelte Wirtschaftsblöcke bilden, hängt auch vom Verhalten Pekings ab. China scheint Russland im Ukraine-Krieg nicht vor den Kopf stoßen zu wollen. Staatsmedien berichten etwa kaum von der russischen Invasion. Gleichzeitig ist Peking aber von einem guten Draht zum Westen abhängig. Knapp 35 Prozent aller chinesischen Exporte gehen in die USA und die EU.

Auch der Westen werde sich "nicht gänzlich" von Russland und China abkoppeln, sagt Daniel Hamilton, Wissenschafter beim US-Thinktank Brookings, dem STANDARD. "Die demokratischen Staaten – nicht nur in Nordamerika und Europa – denken aber darüber nach, wie sie sich von ihren Abhängigkeiten in kritischen Bereichen befreien können." Im Fokus stehen dabei Energie, Halbleiter und der Gesundheitsbereich.

Comeback der Handelsverträge

Ein möglicher Weg wären Handelsabkommen zwischen Europa und den USA oder anderen westlichen Demokratien. Zuletzt sei deutlich geworden, dass die engen Wirtschaftsverflechtungen "eine resiliente und robuste geoökonomische Basis sind, um die Sanktionen selbst zu überstehen und unsere Abhängigkeiten abzubauen", sagt Hamilton. Im Jahr 2021 erreichte der transatlantische Güter- und Dienstleistungshandel eine neue Rekordhöhe von 1,1 Billionen Euro – ein 42 Prozent größeres Handelsvolumen als zwischen der EU und China.

Gerade die aktuelle Krise zeige, "wie wichtig der freie Handel mit Partnern in der Welt ist, die unsere Werte teilen", argumentierte zuletzt auch der deutsche Bundesfinanzminister Christian Lindner. Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck lehnte aber ab. Eine neue "ideologischen Debatte" über TTIP, das geplante Handelsabkommen zwischen den USA und der EU, führe zu nichts.

Die Vertragsverhandlungen dazu liegen bereits seit 2016, als Donald Trump die US-Wahlen gewann, auf Eis. Die Gespräche scheiterten nicht zuletzt an einer öffentlichen Debatte über den möglichen Import amerikanischer "Chlorhühner". Wenige Zeit später regte sich auch gegen das Ceta-Abkommen mit Kanada breiter Widerstand. Mittlerweile ist der Vertrag zwar in Kraft, er wurde bisher aber nur in Teilen ratifiziert. Und auch das geplante Handelsabkommen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten ist seit der Machtübernahme Jair Bolsonaros in Brasilien vorerst Geschichte (siehe Wissen unten).

Der Wind dreht sich

"TTIP ist auch vor allem an der öffentlichen Wahrnehmung gescheitert", sagt Kamin. "Diese öffentliche Wahrnehmung könnte sich durch Corona und den Ukraine-Krieg geändert haben." Dass sich der Wind in Sachen Handelsverträge dreht, zeigt auch ein Blick auf den Terminkalender von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Im Juli trifft sie die neuseeländische Ministerpräsidentin Jacinda Ardern, um ein Handelsabkommen abzuschließen. Auch mit Chile und Mexiko sollen in den kommenden Monaten Verträge unterzeichnet werden. Mit Australien will die EU nun verstärkt verhandeln.

Dass es bald zu einer großen Neuauflage von TTIP kommt, glauben Expertinnen und Experten aber nicht. "Zurzeit bevorzugen die EU und die USA machbare Fortschritte in einzelnen Bereichen wie sauberen Technologien, Investitionsschutz und IT", sagt Ökonom Hamilton. Mögliches Instrument dafür ist der Handels- und Technologierat, den die EU und die USA vergangenen Herbst gegründet haben, um einheitliche Produktstandards zu schaffen.

Laut Kamin müsse Europa seine eigene Rolle finden und dürfe sich nicht länger hinter den USA verstecken. Dazu gehören auch starke Handelsverträge, mit denen Europa ökologische und soziale Standards setzt. "Wir haben seit diesem Jahr mehr Autokratien als Demokratien auf der Welt", sagt Kamin. "Demokratien müssen daher umso stärker zusammenarbeiten." (Jakob Pflügl, 8.4.2022)